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»Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften?« – so beschwört Shakespeares Shylock die Gleichheit der Menschen vor der Natur. Doch ein Blick in die Geschichte führt vor Augen, dass diese Vorstellung ein Wunschdenken blieb. Der mittelalterliche Antijudaismus und der moderne Antisemitismus schufen Stereotype des jüdischen Körpers, die bis heute fortwirken. Ein wichtiges Thema im vorliegenden Band. Gleichzeitig aber geht es um mehr – nämlich um die innerjüdische Sicht auf Leib und Leben.

 Auf systematische Weise wird erkundet, wie sich Vorstellungen und Praktiken des Körpers im Judentum im Laufe einer mehr als zweitausendjährigen Geschichte wandelten – und wie dies wiederum auf die nichtjüdische Außenwelt gewirkt und damit das Bild vom jüdischen Körper in allen Facetten geprägt hat: das Bild vom biologischen Körper und seiner Teile, von Nase, Haut und Haaren, von der Nacktheit und der Scham, Empfängnisverhütung, Sexualität, Hygiene und Diätetik, vom jüdischen Sport wie vom Umgang mit Krankheit, Sterben und Tod, von den Bestattungsregeln und der Hoffnung auf leibliche Wiederauferstehung.

 

Robert Jütte, geboren 1954, leitet seit 1990 das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Von 1983 bis 1989 lehrte er Geschichte an der Universität Haifa. Zu seinen Veröffentlichungen gehören eine Geschichte der alternativen Medizin (1996) und eine Geschichte der Sinne (2000) sowie zahlreiche andere Bücher.

 

 

Robert Jütte

Leib und Leben
im Judentum

Jüdischer Verlag
im Suhrkamp Verlag

 

 

eBook Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe 2016

© Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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Umschlagfoto: Tobias Cohen, Maase Towia, 1708, Heb 7459.800*, Houghton Library, Harvard University, Cambridge, MA

Umschlaggestaltung: Ute Fahlenbock

 

eISBN 978-3-633-74989-8

www.suhrkamp.de

Inhalt

 

 

 

1 EINLEITUNG

 

2 DER BIOLOGISCHE KÖRPER

Das Ebenbild Gottes

Analogien

Körperstereotype

Nase

Lippen

Hautfarbe

Bart

Haarfarbe

Geruch

 

3 DER (UN-)BEDECKTE UND VERÄNDERTE KÖRPER

Korporalität

Muskeljuden

Nacktheit

Kopfbedeckung

Brandzeichen und Tätowierungen

Piercing

 

4 DAS GESCHLECHT DES KÖRPERS

(Un-)Gleichbehandlung der Geschlechter

Beschneidung als Geschlechterdifferenz

Der »verweiblichte« Jude

Homosexualität

Das Wissen um die Sexualität

Prostitution

Fortpflanzung und Kinderlosigkeit

Empfängnisverhütung

Jungfräulichkeit

 

5 DER INTAKTE LEIB

Unterschiedliches Gesundheitsverständnis

Die Pflicht zur Gesunderhaltung

Die besondere Hygiene der Juden

Die »monatliche Reinigung« der Frau

Die Beschneidung in hygienischer Sicht

Speisegesetze

Kuren und »Wellness«

Schönheitsvorstellungen

 

6 DER HINFÄLLIGE LEIB

»Judenkrankheiten«

Hämorrhoiden

Krätze

Plica polonica

Augenkrankheiten

Diabetes

Geschlechtskrankheiten

Genetische Erkrankungen

Körperliche Behinderungen

Hinken

Blindheit

Taubstummheit

Umgang mit Behinderten

Alter

 

7 DER HILFSBEDÜRFTIGE LEIB

Umgang mit Schmerzen

Der Gang zum Arzt

Besuch am Krankenbett

Krankengebet

 

8 DER VERGÄNGLICHE KÖRPER

Euthanasie und Sterbebegleitung

Todeskriterien

Scheintod

Autopsie

Selbstmord

Auferstehungsglaube

Erdbegräbnis

Feuerbestattung

Einbalsamierung

 

Dank

Zur Transkription und Zitierweise

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Personenregister

Sachregister

A ssejfer on a hakdome is wi a guf on a neschome.1

(Jiddisches Sprichwort)

 

 

1 EINLEITUNG

 

Was unterscheidet einen Nichtjuden von einem Juden? »Ein Goi hastet in der Früh aus dem Bett, schlüpft in seine Hosen, besprenkelt sich mit Wasser, fällt auf die Knie und stammelt seine Gebete. Dann rafft er sich auf, nimmt Platz und säuft ein Glas Schnaps, frisst ein Stück Brot und geht auf die Straße und treibt Handel. Danach kehrt er zurück in seine Hütte, setzt sich hin zu seinen Bälgern und seiner Alten, frisst sich an und säuft sich voll wie ein Schwein, um dann wieder loszurennen und die Welt zu täuschen. Abends geht er in die Kirche, bekreuzigt sich wie ein Esel, kommt zurück in seine Hütte, frisst sich wieder an und pennt.

Dagegen ein Jude! In der Früh erhebt er sich von seiner Bettstatt, legt sein Gewand an, wäscht sich überall und stellt sich hin, das Morgengebet zu sprechen. Dann nimmt er ein Gläschen von einem Getränk zu sich und ein Stück Brot und begibt sich nach draußen, um Geschäfte zu machen und Handel zu treiben … Danach begibt er sich nach Hause, setzt sich an den Tisch mit seiner Gemahlin und den Kinderchen, sie sollen gesund sein, sagt den Segen, isst, spricht das Tischgebet und begibt sich wieder zu seinen Geschäften auf die Straße hinaus. Vor Anbruch der Dunkelheit geht er zum Gottesdienst [minjan] in die Synagoge und betet das Abendgebet, kommt nach Hause, nimmt sein Nachtessen ein, betet das Nachtgebet und legt sich hin zum Schlafen.

So verbummelt der Goi seine paar Jährchen und krepiert, und man wirft ihn hinein in die Grube. Der Jude jedoch lebt still, so lang's ihm gewährt wird, und dann stirbt er, man bestattet ihn und legt ihn in ein jüdisches Grab.«2

Der Leser dieser Zeilen ist zunächst überrascht, dass in einer der bekanntesten jiddischen Sammlungen von Anekdoten, Sprichwörtern und Schwänken, Rosinkess mit Mandlen (Rosinen mit Mandeln), die gleiche Geschichte zweimal erzählt wird. Nur die Wortwahl und die Zuspitzung lassen das Leben des einen, nämlich des Juden, als lebenswerter erscheinen als das des anderen. Wie Sigmund Freud (1856-1939) bereits in seinem Buch über den Witz gezeigt hat, versuchen Juden oft, die eigentlich als bedrückend empfundene Situation zu ironisieren. Deshalb der schwarze Humor, für den jüdische Witze bekannt sind.

Die doppelte Sichtweise verblüfft noch aus einem anderen Grund; denn lange Zeit gehörte zum jüdischen Geschichtsverständnis die Überzeugung, dass ein Jude, der in der galut, der Diaspora, lebte und lebt, zu einem Leben voller Drangsal und Anfeindungen verdammt sei. Hier wird jedoch ein ganz anderes, selbstbewusstes Bild gezeichnet. Es ist der als moralisch höherwertig geschilderte Lebenswandel, der sich positiv von dem des Gegenübers, des Nichtjuden, der in der Mehrheitsgesellschaft lebt, abhebt. Das gleiche Motiv kennzeichnet übrigens einen jiddischen Kinderreim, der ultraorthodoxen Kindern in Jerusalem bereits im Kindergarten beigebracht wird: »Oj, wie schejn zu sajn a jid, oj, wie schwär zu sajn a goj!« (»Wie ist es doch schön, ein Jude zu sein, und wie schwer hat es dagegen doch ein Nichtjude!«) Ihn hörte ich zum ersten Mal, als ich Mitte der 1980er Jahre, damals in Haifa lebend und lehrend, eine Sendung des israelischen Fernsehens anschaute und mir verwundert die Augen rieb, was diese heranwachsenden Ultraorthodoxen wohl jemals in ihrem späteren, dem Studium religiöser Texte geweihten Leben von der Welt der Gojim mitbekommen würden. Denn stolz kann man eigentlich nur auf etwas sein, wenn man das Gegenteil kennt.

Wie der eingangs geschilderte Vergleich zwischen einem Goi und einem Juden belegt, macht sich die behauptete, durch die abwertende Wortwahl unterstrichene Differenz vor allem an körperlichen Praktiken fest. Dazu gehören das morgendliche Aufstehen, die Hygiene, die Nahrungsaufnahme, die körperliche Bewegung, der Schlaf, aber auch das Ende der Leiblichkeit, der Tod. In allen Bereichen übertrifft angeblich der Jude den Christen, dessen Leben als trostlos und wenig beneidenswert geschildert wird. Das Jiddische verstärkt durch seine plastische, geradezu körperbetonte Sprechweise diesen Eindruck. Doch neutralisiert man beide Texte, nimmt ihnen die weltanschaulich-religiöse Färbung, so entdeckt man, dass der Alltag eines Juden sich kaum von dem eines Nichtjuden unterscheidet, und zwar bis in die Körperpraktiken hinein.

Kein Geringerer als Shakespeare hat die Erkenntnis, zu der man gelangt, wenn man den jiddischen Text gegen den Strich bürstet, so prägnant auf den Punkt gebracht und dramaturgisch klug gestaltet. Gemeint ist die berühmte Stelle aus dem Kaufmann von Venedig, in der Shakespeare, der keinen Juden persönlich gekannt haben dürfte, Shylock verzweifelt ausrufen lässt: »Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ?«3 Doch diese Betonung der Gleichheit von Christen und Juden vor den Gesetzen der Natur, denen auch die menschliche Physis und Psyche unterworfen sind, verhallte bekanntlich ungehört und wird durch den Verlauf des Stücks geradezu konterkariert.

Dass in der Tat die Juden damals (zumindest in Venedig) äußerlich kaum von Christen zu unterscheiden waren, bezeugt der englische Reisende Thomas Coryat (ca. 1577-1617), der 1608 das Ghetto in Venedig besuchte und erstaunt feststellte, dass das englische Sprichwort »to look like a Jew« (wie ein Jude aussehen) an diesem Ort keinen Bezug zur Wirklichkeit hatte: »Ich stellte fest, dass einige wenige dieser Juden, insbesondere einige Levantiner, so gute und ordentliche Männer sind, dass ich zu mir selbst sagte, dass unser englisches Sprichwort ›Aussehen wie ein Jude‹ (worunter man manchmal einen wettergegerbten Kerl mit windschiefem Gesicht, manchmal eine rasende, verrückte Person, manchmal einen Unzufriedenen versteht) nicht wahr ist. Denn in der Tat schienen sie mir die elegantesten und am schönsten gestalteten Personen, was mir umso mehr dazu Anlass gab, ihre Religion zu bedauern.«4

Was Coryat hier zum Nachdenken über Stereotype bringt, die durch Redeweisen und populäre Bilder verstärkt werden, war für viele seiner Zeitgenossen eher ein Anlass zur Sorge.5 Wie sollte man dann überhaupt einen Juden erkennen, wenn nicht an seinem Äußeren? Hier setzte bereits die spätmittelalterliche Judenkennzeichnung an, und zwar durch Kleidungsvorschriften (negativ konnotierte und grelle Farben sowie bestimmte Accessoires wie z. ‌B. ein aufgenähter gelber Ring). Auf diese Weise glaubte man, einen Juden, der häufig nicht die angeblich typischen Körpermerkmale wie gebogene Nase oder Bart aufwies, gleich identifizieren zu können.6 Und selbst nach der Konversion blieb in christlichen Kreisen bis weit in die Neuzeit hinein das Misstrauen, ob die Taufe wirklich aus dem Juden einen neuen Christenmenschen gemacht hatte, wenn es nicht eindeutige körperliche »Beweise« dafür gab. So kursierten Legenden, dass getaufte Juden angeblich nicht mehr stinken, wie man dies ihren früheren Glaubensgenossen nachsagte. Und wenn solche wundersamen Transformationen des Leibes ausblieben, dann musste ein Konvertit zumindest seine Körperpraktiken an die neue Umgebung anpassen. Gerade in Inquisitionsprozessen, in denen zwangsgetaufte spanische Juden (marranos) vor Gericht standen, weckten verdächtige Körperpraktiken Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Konversion. Als Test diente zum Beispiel der »richtige« Umgang mit einer Leiche.

Was uns heute zunächst als Anachronismus erscheint, spielt gleichwohl auch in unserer modernen Gesellschaft noch eine Rolle. Nicht wenige Konvertiten versuchen, den Glaubenswechsel oder Religionswechsel durch eine Veränderung körperbezogener Praktiken zu bekräftigen. So existieren beispielsweise religionssoziologische Untersuchungen zu amerikanischen Juden, die ihre ultraorthodoxen Elternhäuser verlassen haben und danach das Bedürfnis empfanden, diesen Schritt durch neue Körpertechniken (z. ‌B. wie man morgens aufsteht, sich tagsüber ernährt oder kleidet) zu unterstreichen.7 Dabei ist es offenbar unerheblich, ob die Betroffenen nur zu einer weniger orthodoxen Glaubensrichtung gewechselt oder atheistisch geworden waren. Auch für andere Glaubensgemeinschaften werden ähnliche Verhaltenswechsel nach erfolgter Konversion beschrieben.8 Allerdings fehlen dazu bisher Untersuchungen von Historikern, die diesem religionssoziologischen Phänomen in früheren Zeiten nachspüren.

Doch warum soll man sich als Historiker überhaupt mit dem Körper befassen, zumal mit dem jüdischen? Hat dieser überhaupt eine Geschichte?

Dass der Körper nicht nur biologisch zu betrachten ist, sondern auch eine historische Dimension hat, ist in den letzten Jahrzehnten von der sogenannten Körpergeschichte überzeugend dargelegt worden.9 Die grundlegenden methodischen Debatten sind inzwischen geführt, die soziale Konstruktion des Körpers wird von niemandem mehr ernsthaft in Frage gestellt. Inzwischen geht es vor allem darum, »mittels Fragen nach überlieferten Körpervorstellungen und -praktiken [zu] versuchen, Antworten auf Gesellschaftskonstituierung zu finden«.10 Dieser »corporal turn« in der Geschichtswissenschaft hat mittlerweile ebenfalls die jüdische Geschichte erreicht. Seit den 1990er Jahren wird diskutiert, wie der jüdische Körper im Verlauf der Geschichte »konstruiert« wurde, und zwar von Juden wie Nichtjuden.11 Dabei geht es nicht nur um Fremd- und Selbstbilder, sondern ganz konkret auch um körperliche Praktiken, die man Juden zuschreibt oder die zur Identitätsbildung einer religiösen und kulturellen Gemeinschaft beitragen. Der Einwand des amerikanisch-jüdischen Journalisten Leon Wieseltier,12 diese Forschung sei banal, weil nun einmal jeder Jude einen Körper habe, zielt ins Leere. Sein Essentialismus, der von einer überzeitlichen, ahistorischen menschlichen Physis ausgeht, dient ihm lediglich dazu, einer Ideengeschichte das Wort zu reden, die (meist als fortschrittlich gewertetes) jüdisches Denken in den Mittelpunkt stellt. Dass Antijudaismus bzw. Antisemitismus, aber auch der jüdische Selbsthass vor allem auf den Körper und nicht auf den Geist abzielen, wird bei dieser Betrachtungsweise einfach ausgeblendet. Insofern ist diese ziemlich singuläre und einseitige Position von amerikanischen Vertretern des Fachs Jüdische Studien zu Recht kritisiert worden, unter anderem mit dem Hinweis, dass gerade die Religionsgesetze des Judentums, die Halacha, in vielfältiger Form und detailliert die sogenannten »Techniken des Körpers« (Marcel Mauss, 1872-1950) regeln.13

Rufen wir uns in Erinnerung, was der Schöpfer dieses Begriffs – übrigens ein aus einer jüdischen Familie stammender französischer Anthropologe – darunter verstand, nämlich alle »Weisen, in denen sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen«.14 Was sind also die anerzogenen Körpertechniken, die beispielsweise Juden von klein auf durch Eltern und Autoritätspersonen vermittelt bekommen haben, und was ist jüdisch an ihnen?15 Wie haben sich diese im Laufe einer mehr als zweitausendjährigen Geschichte (davon die meiste Zeit im Exil) geändert? Wie haben diese Praktiken auf die nichtjüdische Außenwelt gewirkt? Wie haben sie das Bild vom jüdischen Körper geprägt? In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, welchen Einfluss die Säkularisierung auf den Körper hat.16

Bewusst ausgeklammert wird das Verhältnis von Seele und Leib im Judentum. Zur jüdischen neschome (jiddisch für Seele) – sowohl in übertragener als auch in konkreter Bedeutung – ließe sich ein eigenes Buch schreiben. Das hängt nicht zuletzt mit der großen Bandbreite der jüdischen Spiritualität zusammen, die nicht nur mehrere Bezeichnungen für die Seele kennt, sondern insbesondere stark mystische Bezüge aufweist. Man denke etwa in diesem Zusammenhang an die Kabbala, deren zentrale Thematik die göttlich-menschliche Vereinigung ist, bei der der Seele eine Mittlerrolle zukommt. Aber auch liturgische, philosophisch-theologische sowie medizinische Aspekte (Stichwort: seelische Erkrankungen) wären dabei zu berücksichtigen. Das hätte den Umfang dieses Buches bei weitem gesprengt. Und so hält es der Verfasser mit der strikten Trennung von Körper und Geist, wie sie durch René Descartes (1596-1650) Einzug in die Naturphilosophie gehalten hat und der seitdem auch viele, wenngleich nicht alle jüdischen Philosophen und Mediziner gefolgt sind.

Dieses Buch versucht in erster Linie eine Antwort auf eine Vielzahl von Fragen zu geben, die fast ausschließlich den Körper betreffen. Dazu wird ein breites Spektrum jüdischer und nichtjüdischer Quellen herangezogen. Im Mittelpunkt steht also immer die menschliche Physis, und zwar in all ihren Facetten, wenngleich die hier vollzogene Trennung zwischen Körper und Geist – wie gesagt – eher eine künstliche bzw. arbeitsökonomische ist.

Am besten eignet sich als Einstieg eine nähere Betrachtung der traditionellen Körperstereotypen, nicht nur weil diese sehr bekannt sind, sondern weil sie sich bis heute als wirkmächtig erweisen. Die Bandbreite reicht von der sogenannten »Judennase« bis hin zum besonderen Geruch, den Juden angeblich an sich haben.

Dass sich die äußere Erscheinung verändern lässt, sei es durch Kleidung oder bestimmte Körpertechniken (Sport, Tätowierung) – davon legt gerade die jüdische Geschichte ein beredtes Zeugnis ab. In diesem Zusammenhang ist insbesondere das zionistische Gegenmodell des »Muskeljuden« zu erwähnen.

Auch die Geschlechtergeschichte hat inzwischen den jüdischen Körper entdeckt. Dabei geht es unter anderem um die populäre, vom antiken Christentum, besonders durch den Apostel Paulus geprägte Vorstellung, dass das Judentum angeblich fleischlich-körperlich orientiert sei und dementsprechend ein anderes sexuelles Verhalten (z. ‌B. in Fragen der Fortpflanzung und Enthaltsamkeit) aufweise.

Zentral für jede Körpergeschichte sind die Kategorien von »Gesundheit« und »Krankheit«. Für das jüdische Volk besaßen und besitzen diese nur vordergründig als rein biologisch erscheinenden Phänomene und Prozesse eine zentrale Bedeutung, man denke nur an die Vorstellung vom Judentum als »Krankheit«.17 Aber es gab und gibt zudem die gegenteilige Auffassung, dass Juden sich bedingt durch ihre Religion besonders um die Gesunderhaltung ihres Körpers kümmern. Wie das Judentum mit diesen beiden anthropologischen Konstanten (Krankheit und Gesundheit), die sich auf den zweiten Blick in erheblichem Maße als sozial konstruiert erweisen, umgegangen ist, gehört zu den wenig beackerten Feldern in der jüdischen Geschichte.

Und am Ende steht – wie könnte es bei diesem Thema anders sein! – das Ende der Körperlichkeit, der Tod und die Vergänglichkeit menschlichen Lebens, verbunden mit der Hoffnung auf Wiederauferstehung, die im Judentum anders ausgeprägt ist als beispielsweise in christlichen oder anderen Religionsgemeinschaften. Nicht nur in diesem Kontext geht es auch um aktuelle medizinethische Fragen (z. ‌B. Hirntod, Autopsie), die im Folgenden in interreligiöser Perspektive betrachtet und historisch fundiert werden.