Danksagung

Mit diesem Buch möchten wir allen danken, die uns in unterschiedlichster Weise unterstützt haben und bis heute unterstützen: Trainern, Spielern und Funktionären für Rat und Tat, Freunden und Bekannten für die Begleitung vor allem zu den Spielen und den Reportern für den Einsatz an den Blindenplätzen.

Wir haben schon früh lernen müssen, dass der Fußball sehr schnelllebig und dass Zeit ein knappes Gut ist. Deshalb danken wir jedem für die Zeit, die er sich genommen hat, um sich für uns persönlich und/oder den Fanclub einzusetzen. Dieses Buch haben wir geschrieben, um zu zeigen, was durch unsere Arbeit, aber vor allem durch den Einsatz jedes Einzelnen möglich gemacht worden ist.

Das Foto zeigt Nina Schweppe 2. v. links und Regina Hillmann, 3. v. links mit dem Bundespräsidenten a.D. Horst Köhler und seiner Gattin

Die Arbeit der Sehhunde wurde am 04.10.2006 mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande gekrönt. Die große Bedeutung dieser Auszeichnung wurde dadurch unterstrichen, dass die Vorsitzenden Regina Hillmann und Nina Schweppe sie aus der Hand von Bundespräsident Horst Köhler persönlich entgegennehmen durften.

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© 2013 Verlag Kern

© Inhaltliche Rechte bei Regina Hillmann (Autorin)

© Titelfoto: Herbert Bucco, www.ligafoto.de

Lektorat: Manfred Enderle

Umschlagdesign und Satz:

Brigitte Winkler – www.winkler-layout.de

ISBN 9783944224770

ISBN E-Book: 9783957160300

www.verlag-kern.de

Regina Hillmann

Fußball einmal anders gesehen

Wie erleben Blinde Fußball?

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Danksagung

Begleitwort zum Buch des Fanclubs Sehhunde e.V. von Bundespräsident a.D. Horst Köhler

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Nachwort

Begleitwort zum Buch des Fanclubs Sehhunde e.V. von Bundespräsident a.D. Horst Köhler

Die wohl berühmtesten Worte der deutschen Fußballgeschichte wurden nicht im Fernsehen, sondern im Radio gesprochen: “Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor!“. Herbert Zimmermanns Radio-Reportage über das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 1954 hat die Vorstellung des Wunders von Bern für Generationen geprägt: Unser „Bild“ der WM ′54 ist vor allem ein Ton. Fußball kann man also auch hören, und das macht ihn nicht weniger spannend. Und für blinde und sehbehinderte Menschen ist die gesprochene Live-Reportage sogar meist der einzige Weg, das Spielgeschehen möglichst detailliert mitzubekommen. Deshalb ist die Idee des Fanclubs Sehhunde ein großartiger Beitrag für mehr Teilhabe behinderter Menschen gerade auch im sportlichen Bereich.

Noch gut kann ich mich an die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 2006 an zwei engagierte junge Damen erinnern. Schon damals war ich beeindruckt, was Regina Hillmann und Nina Schweppe für blinde Fußballfans auf die Beine gestellt hatten. Jetzt, sieben Jahre später, wird schon in über 30 Stadien ein Reportage-Service für blinde und sehbehinderte Fans angeboten. Die Beharrlichkeit der beiden Frauen hat sich ausgezahlt. Und dank dieses Buches kann nun jeder die faszinierende Aufstiegsgeschichte der Sehhunde nachlesen.

Das Buch gibt einen Einblick in die Lebenswelt blinde

Menschen und die Barrieren, mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, im Fußball und in der Gesellschaft. Aber es ist eben vor allem das Dokument zweier großer Fußballfans, die diese Barrieren beharrlich zu überwinden suchten, mit viel Ausdauer, Leidenschaft und einer gehörigen Portion Gewitztheit. Dass es bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 spezielle Plätze für blinde Stadionbesucher gab, das ist wohl vor allem Menschen wie Frau Hillmann und Frau Schweppe und den Sehhunden zu verdanken. Die vielen Anekdoten über zahlreiche Begegnungen mit den Größen der deutschen Fußballwelt, die in diesem Buch erzählt werden, sind reich an Situationskomik und lassen die Herzen eines jeden Fußballfans höher schlagen.

Ich wünsche diesem Buch eine möglichst breite Leserschaft sehender und blinder Leser, und allen Sehhunden weiterhin viel Leidenschaft und Ausdauer für den Fußball.

Bundespräsident a.D. Horst Köhler

1.

„Leverkusen hat Anstoß mit Ballack und mit Kießling in der Mitte. Und da ist das Spiel freigegeben. Leverkusen spielt zunächst mal hintenrum in die Innenverteidigung über Ömer Toprak und Friedrich.“

Zehn Zuschauer sitzen mit Kopfhörern ausgestattet erwartungsvoll in Reihe 10 Block H2 in der BayArena in Leverkusen. Neben ihnen sitzt ein junger Mann, der ununterbrochen in ein Mikrofon spricht. Es ist Mittwoch, der 23. November 2011, und auf dem Spielfeld läuft das Champions-League-Spiel zwischen Bayer 04 Leverkusen und dem FC Chelsea. Wahrscheinlich fragen Sie sich, lieber Leser, wie viele andere Besucher im Stadion auch: Was bedeutet das? Was machen die da?

Die BayArena ist eines von mehr als 30 Stadien in Deutschland, in denen ein spezieller Service für blinde und sehbehinderte Besucher angeboten wird. Mittels Kopfhörern erhalten die Nutzer eine speziell auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Reportage. Es stehen in den unterschiedlichen Stadien zwischen 5 und 30 Plätze zur Verfügung. Die Übertragung erfolgt meist über Funk. Der Reporter spricht in ein mit einem Sender verbundenes Mikrofon, während die Kopfhörer jeweils mit einem Empfänger verbunden sind. In einigen Stadien, so auch in der BayArena, erfolgt die Übertragung über eine fest installierte Anlage, bei der das Mikrofon an ein Mischpult angeschlossen ist und sich an jedem Platz eine Kopfhörerbuchse befindet. Die Kopfhörer sind natürlich so beschaffen, dass der Zuhörer einerseits den Reporter, andererseits auch die Stadionatmosphäre hören kann. Ein Stadionbesuch ohne die dazugehörige Atmosphäre ist kein echtes Stadionerlebnis.

Die Reportage wird von einem oder zwei sich abwechselnden Reportern gesprochen. Sie üben dabei eine Art Dolmetscherfunktion aus, in dem sie das Gesehene in Worte übersetzen. Sie dürfen sich eine spezielle Spielreportage für blinde und sehbehinderte Stadionbesucher aber nicht wie einen Spielkommentar im Fernsehen vorstellen. Ähnlicher ist eine Blindenreportage da noch einer 90-minütigen Spielübertragung im Rundfunk. Allerdings gibt es auch hier gravierende Unterschiede. Aus diesem Grund sind die Blindenreporter speziell auf ihre Aufgabe vorbereitet.

Ein Blindenreporter hält sich mit seiner Spielbeschreibung in erster Linie an das Geschehen auf dem Spielfeld. Er ist stets auf Ballhöhe, schildert jeden Ballkontakt. Dabei ist sowohl der Name des Spielers als auch der Ort des Geschehens wichtig. Ein Rundfunkreporter streut Randgeschichten und Anekdoten in seine Reportage ein, wenn er der Meinung ist, dass das Spielgeschehen nicht berichtenswert ist. Ein Blindenreporter bleibt immer am Ball, weil er „übersetzt“. Ein Simultandolmetscher übersetzt auch alles, was gesagt wird und entscheidet nicht, was er persönlich für wichtig erachtet und was nicht. Ein Blindenreporter schildert ein Ballgeschiebe an der Mittellinie genauso wie eine spannende Szene im Strafraum.

Nur während Spielunterbrechungen hat der Reporter Zeit, verbal das Spielfeld zu verlassen und Hintergrundinformationen und die eine oder andere Geschichte zu erzählen. Wichtig ist natürlich, dass er zuvor gesagt hat, dass das Spiel unterbrochen ist. Die Zuhörer haben sonst das Gefühl, eventuell auf dem Feld etwas zu verpassen. Wenn ein Reporter das Spielgeschehen verlässt, ist es für den blinden Stadionbesucher so, als würde man einem Sehenden die Augen zuhalten. Er ahnt, dass etwas im Spiel passiert, hört möglicherweise Reaktionen des Publikums, weiß aber nicht, was gerade geschieht.

Neben der Beschreibung jedes Spielzuges enthält eine Spezialreportage auch weitere wichtige Informationen zur Partie wie Spielerwechsel und damit verbundene taktische Veränderungen. Auch Zwischenergebnisse von anderen Plätzen, die auf den Videowänden angezeigt werden, finden zeitnah Erwähnung.

Nach dem Abpfiff ist der Nutzer der Blindenreportage mindestens genauso gut über das Spiel informiert wie die sehenden Zuschauer. Er ist in der Lage, mit anderen Fußballfans über das Gesehene zu diskutieren, ohne dass ihm Details fehlen.

3.

Nun zurück zu besagtem Abend im Töpferraum. Als langjähriger Fußballfan träumte ich natürlich auch davon, einen Spieler oder Trainer einmal persönlich zu treffen. Meine Erfahrungen gingen jedoch nicht über kurze Begegnungen beim Autogramme sammeln hinaus. Daher begeisterte mich Ninas Bericht außerordentlich, und wir schmiedeten den Plan, ein Experiment zu starten. Es war schon äußerst überraschend gewesen, als Hobby-Journalist beim 1. FC Köln Christoph Daum interviewen zu können. Aber es würde uns sicher nicht gelingen, einen Termin mit Jupp Heynckes, dem damaligen Trainer des FC Bayern zu bekommen. Wir wollten es aber genau wissen und schrieben nach München. Das Unglaubliche geschah: Wir erhielten einen Brief von Uli Hoeneß, in dem er uns einen Gesprächstermin mit Jupp Heynckes am Vorabend des Spiels in Bremen Anfang Mai anbot. Wir nahmen natürlich an.

Einige Wochen später fuhr ich also mit Nina und Iris zu meinem ersten Interview. Obwohl ich Werder-Bremen-Fan war und Heynckes deshalb nicht zu meinen großen Idolen gehörte, war ich sehr aufgeregt. Als wir uns in Bremen am Bahnhof trafen, ging es den anderen beiden trotz der Erfahrung aus ihrem ersten Interview nicht viel besser.

Als wir an der Hotelrezeption unsere Terminbestätigung vorlegten, wurde uns zu unserem Erstaunen die Zimmernummer von Herrn Heynckes gegeben und wir wurden aufgefordert, selbst dort anzurufen. Ein solches Verhalten ist für ein First-Class-Hotel äußerst unprofessionell. Keiner von uns traute sich natürlich dort anzurufen bis Iris einfach die Nummer wählte und Nina den Hörer in die Hand drückte. Da Jupp Heynckes bereits nach zweimaligem Klingeln am Telefon war, blieb Nina wenig Zeit zum Überlegen. Sie brachte unser Anliegen vor, woraufhin Herr Heynckes mit der Begründung ablehnte, dass in einer halben Stunde das Abendessen mit der Mannschaft beginne. Nina wandte jedoch ein, dass wir eine Zusage für diese Uhrzeit hätten und extra für diesen Termin angereist wären. Jupp Heynckes gab schließlich nach und versprach, in die Lobby zu kommen. Wir brauchten nur noch wenige Minuten zu warten und konnten dann mit unseren Fragen beginnen.

Nachdem er uns trotz unserer Nervosität und Unerfahrenheit alles geduldig beantwortet hatte, wollte Herr Heynckes uns noch eine Freude machen. Da wir ja alle keine Bayernfans waren, kamen Fanartikel nicht in Frage. Stattdessen wurden uns Eintrittskarten für ein Spiel in München angeboten. Das fanden wir gar nicht schlecht, machten aber deutlich, dass für uns als Schüler die Anreise nach München kaum bezahlbar wäre. Daraufhin gab ein Wort das andere und schließlich lud uns Jupp Heynckes für ein Wochenende ein, inklusiv Flügen und Hotel. Nun mussten wir uns noch auf ein Spiel einigen, was etwas schwierig war, da Iris und Nina FC Köln- und ich Werder-Anhänger war. Wir einigten uns auf das Südderby gegen den VfB Stuttgart, welches als Nachbarschaftsduell eine gewisse Brisanz hat, für uns aber neutral war. Da es kurz vor Ende der laufenden Saison den Spielplan für die kommende Spielzeit noch nicht gab, wussten wir alle nicht, wann diese Partie stattfinden würde.

Auf unserem anschließenden Rückweg zum Bahnhof bekamen wir dann irgendwie doch ein etwas schlechtes Gewissen. Eigentlich hatte Jupp Heynckes uns Fanartikel schenken wollen, und nun war ein ganzes Wochenende in München dabei herausgekommen. Wir glaubten jedoch nicht, dass wir wirklich nach München fahren würden. Schließlich lag der Termin irgendwann in der nächsten Saison und bis dahin wäre die Einladung längst vergessen.

Umso größer war die Überraschung, als sich Ende Juli eine Mitarbeiterin des FC Bayern bei Iris meldete, um die Details für die Reise nach München abzusprechen. Die Spielansetzungen hatten ergeben, dass die Begegnung FC Bayern gegen den VfB Stuttgart bereits am 25. August stattfinden sollte. Es wurde vereinbart, dass wir am Samstagvormittag von Hamburg nach München fliegen, dann nachmittags das Spiel im Olympiastadion besuchen und abends mit Jupp Heynckes essen gehen sollten. Der Rückflug war für Sonntag geplant.

Insgesamt freuten wir uns riesig auf die Reise. Es war für uns als normale Fußballfans etwas ganz Besonderes, vom Trainer des FC Bayern eingeladen zu sein. Das geplante Abendessen bereitete uns jedoch schlaflose Nächte. Prominente zu interviewen war das eine, aber zusammen essen zu gehen, doch noch etwas anderes.

Bis zum 25. August steigerte sich die Aufregung immer weiter und einige meiner Klassenkameraden erzählen heute noch davon, dass ich kaum noch von etwas anderem sprechen konnte.

Dann ging es endlich los … Am Flughafen wurden wir von Stephan Roth, einem Mitarbeiter der Geschäftsstelle des FC Bayern abgeholt. Auf dem Weg zum Hotel erzählte er uns, dass er ein Freund von Herrn Heynckes sei und von ihm den Auftrag habe, sich während des Wochenendes um uns zu kümmern. Es handele sich um eine private Einladung, die unter uns bleiben solle.

Beim Betreten des Hotels wurde sofort deutlich, dass es hier einen Bezug zum Fußball gab. Die Wände zierten Fotos und Wimpel diverser Mannschaften, die hier schon übernachtet hatten. Dies beeindruckte uns natürlich sehr.

Nach einer kurzen Erfrischungspause fuhren wir mit Herrn Roth zum Olympiastadion. Da bis zum Spielbeginn noch reichlich Zeit war und die Greenkeeper 1990 noch großzügiger waren als heute, durften wir den Rasen betreten und uns auf die Trainerbänke setzen. Eine solche Chance ergibt sich nicht alle Tage.

Vor dem Spiel durften wir dann im VIP-Bereich Mittag essen. Auch dies war für uns völlig neu und daher sehr aufregend. Als wir uns dann aussuchen konnten, ob wir die Partie von der normalen Tribüne oder einer kleinen Vortribüne im Innenraum des Stadions aus verfolgen wollten, entschieden wir uns natürlich für den Innenraum. Dort waren wir viel näher am Geschehen als üblich und etwas Besonderes war es auch, da „normale“ Zuschauer hier keinen Zutritt haben.

Nach dem Spiel fuhr Herr Roth mit uns zur Geschäftsstelle des FC Bayern, wo wir im Trophäenraum Fotos mit der Original-Meisterschale machen konnten. Obwohl wir zu dieser Zeit keine Sympathien für diesen Verein hatten, waren wir doch sehr beeindruckt von der großen Sammlung an bedeutenden Pokalen. Und das alles aus nächster Nähe!

Das „Schlimmste“ stand uns aber ja noch bevor: Das Essengehen mit Herrn Heynckes und Frau. Uns gingen ja schon seit Wochen alle möglichen Dinge durch den Kopf. Wie verhält man sich richtig? Worüber unterhält man sich? Hoffentlich macht man nichts falsch! Wir hatten alle drei richtig Angst vor diesem Abend. Natürlich war dann alles ganz unkompliziert. Wir machten zum ersten Mal die Erfahrung, dass Prominente auch ganz normale Menschen sind. Diese Erkenntnis kommt natürlich leichter nach einem ganzen gemeinsamen Abend als nach einem Interview.

Am Sonntagvormittag wollte Herr Roth uns um 11:00 Uhr abholen und zum Flughafen bringen. Er rief jedoch im Hotel an und ließ uns ausrichten: „Ich komme etwas später.“ Dieser Satz sollte uns die nächsten 20 Jahre durch das Fußballgeschäft begleiten. Wir schafften es aber noch rechtzeitig zu unserem Flug. Zum Abschied bot uns Stephan Roth an, dass wir jederzeit auch ohne sehende Begleitperson zum Fußball nach München kommen könnten. Er würde sich im Umfeld des Spiels um alles kümmern.

Dieses Wochenende war für uns als Fußballfans ein tolles Erlebnis. Wir haben vieles geboten bekommen, was Fans begeistert. Und da dies unser erster näherer Kontakt zu einem Verein war, blieben anschließend gewisse Sympathien für den FC Bayern nicht aus.

2.

Alles begann an einem Abend im März 1990. Wir, das sind Nina und ich, trafen uns im Töpferraum des Blindenjugendheims in Hamburg. Wir wohnten dort nicht, weil unsere Eltern uns nicht mehr haben wollten, sondern weil eine wohnortnahe integrative Beschulung zu diesem Zeitpunkt noch die absolute Ausnahme war. Die Tatsache, dass wir dort lebten, erwies sich in vielerlei Hinsicht als Glücksfall für uns.

Nina ist von Geburt an blind und besuchte die Höhere Handelsschule am heutigen Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte. Ich habe einen kleinen Sehrest von ca. 3 %. Das bedeutet, dass ich, vereinfacht gesagt, Umrisse sehen und mit entsprechenden Hilfsmitteln auch Gedrucktes lesen kann. Zu dieser Zeit besuchte ich das Heinrich-Hertz-Gymnasium, eine Schule, die sich der Integration blinder und sehbehinderter Schüler verschrieben hatte.

An jenem folgenschweren Abend trafen wir uns nun also beim Töpfern und stellten fest, dass wir beide das gleiche Steckenpferd haben: Fußball.

Nina berichtete noch ganz aufgeregt von einem Interview, welches sie wenige Tage zuvor gemeinsam mit einer Freundin mit Christoph Daum, dem damaligen Trainer des 1. FC Köln geführt hatte. Die Idee zu diesem Interview war den beiden Köln-Fans einige Monate zuvor gekommen. Es handelte sich aber eher um eine Art Schnapsidee, eine Anfrage für ein Interview an den Verein zu schicken. Die Überraschung war groß, als ein Termin für Anfang März angeboten wurde. Die beiden Freundinnen hatten nicht damit gerechnet, dass sie als reine Hobby-Journalisten überhaupt eine Antwort erhalten würden.

Der entscheidende Brief traf einige Wochen vor dem Termin ein. Herr Daum lud die beiden ein, sich am Abend vor dem Rheinderby in Leverkusen im Mannschaftshotel einzufinden. Dort könne dann vor dem Abendessen ein Interview von etwa 30 Minuten Länge stattfinden.

An dem bewussten Tag, Anfang März 1990, platzten die beiden nahezu vor Aufregung. Da sie beide noch Schüler waren, brauchten sie von ihren Lehrern die Erlaubnis, früher den Unterricht verlassen zu dürfen. Diese wurde aufgrund des Briefes von Herrn Daum natürlich gern gegeben. Mittags ging es dann mit dem Zug Richtung Köln. Nina startete in Hamburg und ihre Freundin Iris sollte unterwegs zusteigen. Als der Zug in Osnabrück hielt, war keine Iris weit und breit zu sehen. Es ertönte schon wieder die Ansage zum Schließen der Türen, als sie angehetzt kam. Das Lunchpaket, das Iris‘ Mutter gepackt hatte, blieb unbeachtet, denn vor Aufregung konnten beide nichts essen. Natürlich kamen sie viel zu früh in Köln an. Um der Aufregung einigermaßen Herr zu werden, gingen sie zu Fuß über die Hohenzollernbrücke auf das Hotel zu.

Noch immer ein wenig zu früh, betraten sie das Hotel, wo sie an der Rezeption das Einladungsschreiben vorlegten. Der Hotelangestellte teilte mit, dass der Mannschaftsbus und somit auch Herr Daum noch nicht da seien. Die beiden dürften sich aber in die Lounge setzen und dort warten.

Sie zögerten, sich zu setzen, denn die Aufregung wurde nun beinahe übermächtig. Es ist wohl der Traum vieler Fans, den Spielern oder Verantwortlichen ihres Vereins einmal nahe sein zu dürfen. Aber die Tatsache, Christoph Daum, diesen interessanten Menschen, der seit seinem Amtsantritt polarisierte, endlich zu treffen, erschien ihnen nahezu unfassbar.

Schließlich setzten sie sich doch und warteten, während die Aufregung nahezu unerträglich wurde. Die Ankunft des Mannschaftsbusses ließ jetzt schon seit über einer Stunde auf sich warten. Im Laufe der Jahre sollten wir lernen, dass eine Verspätung von etwas über einer Stunde im Fußball noch gar nicht zählt. Die beiden hatten sich gerade entschlossen, enttäuscht zu gehen, als Christoph Daum durch die Drehtür das Hotel betrat.

„Ich bin ein wenig zu spät, bitte entschuldigt“, sagte er höflich, während er den beiden seine Tasche vor die Füße fallen ließ. „Geht schon mal rein“, sagte er, während er auf eine Tür wies „Ich komme dann gleich nach.“ Sprach´s, sammelte seine Sachen wieder auf und verschwand.

Die beiden fügten sich in das Unvermeidliche und Iris öffnete die Tür, um wie angewurzelt in der Öffnung stehen zu bleiben. Was war passiert? Die Scheinwerfer einer Fernsehkamera waren auf die beiden gerichtet. „Mach mal erst aus“, sagte einer der Fernsehmitarbeiter zu seinem Kollegen, „damit die zwei erst mal entspannt hereinkommen können.“ Ihnen wurde erklärt, dass es sich um Aufnahmen für ein Sendeformat des WDR handele, dass aber Herr Daum derjenige sei, um den es in der Hauptsache ginge. Er habe den Termin lediglich zum Anlass genommen, um zu zeigen, wie vielfältig sein soziales Engagement sei.

Als sich die Tür des Raumes das nächste Mal öffnete, stellte sich heraus, dass es sich um die Räumlichkeit handelte, die die Mannschaft für ihr gemeinsames, im Trainingslager übliches, Abendessen nutzte. Zur großen Überraschung der beiden setzten sich Pierre Littbarski und Bodo Illgner nicht zur Mannschaft, sondern zu ihnen an den Tisch. Der Wunsch, dass auch Spieler bei dem Interview dabei sein sollten, war also auch noch erfüllt worden. Natürlich steigerte dies die Aufregung noch weiter. Die beiden Spieler schafften es mit sehr viel Einfühlungsvermögen, die Situation etwas zu beruhigen. Zwischen Fans und Prominenten gibt es häufig eine Distanz, die zunächst überwunden werden muss, um zu einem „normalen“ zwischenmenschlichen Kontakt zu kommen. Besonders leicht fiel das dem jungen Bodo Illgner, der selbst noch Schüler war und dadurch diese Kluft leicht überwand. Das ging so weit, dass er sich anschickte, Iris ihre Mathehausaufgaben zu erklären, als Christoph Daum wieder erschien. Er bemühte sich, alle Fragen in aller Ausführlichkeit zu beantworten, was von den beiden Spielern ein ums andere Mal vereitelt wurde. Dadurch wurde die Situation aufgelockert und es entstand ein Gespräch in entspannter Atmosphäre.

Die Abschlussfrage jedoch stellte Herr Daum, als er wissen wollte, ob die beiden denn auch das Rheinderby gegen Leverkusen besuchen würden. Sie mussten dies verneinen, weil sie keine Karten hätten. Sie erhielten zum Abschied den Auftrag, sich am Spieltag telefonisch im Hotel zu melden und nach dem Trainer zu fragen. Zwar wisse er nicht, ob er noch Karten besorgen könne, versprach aber, es zu versuchen.

Der telefonische Kontakt kam am Spieltag tatsächlich zustande und es ergab sich, dass tatsächlich noch zwei Tickets zu haben waren. So bildete der Spielbesuch einen schönen Abschlusspunkt dieses ereignisreichen Wochenendes.