STEPHAN VALENTIN



Weiße Eichen




Roman






Pfefferkorn





Vollständige E-Book-Ausgabe.
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Buch ist auch als Hardcover unter
ISBN 978-3-9807298-5-7
erschienen bei
© 2007 Pfefferkorn Verlag
Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Ereignissen wären zufällig
und unbeabsichtigt

ISBN E-BOOK 978-3-9807298-7-1

Schutzumschlaggestaltung: Dorothee Mankopf
Foto © Yuri Arcurs - Fotolia.com
Satz: dtp- und mediaservice gmbh

Sie finden uns im Internet unter

www.pfefferkorn-verlag.de



Für Jacqueline Hyde




Gehören Sie etwa auch zu diesen Leuten, die ihr Obst vorm Essen waschen? Gerda B.


ERSTER TEIL


PHILIPÉ


Das ist es. Mehr denkt er nicht, als er aus der Haftanstalt kommt. Er bleibt stehen. Am Straßenrand. Der Himmel, er ist nicht mehr ein von Mauern umrahmtes blaues Bild. Das ist es. Wind zerrt an den bunten Blättern des Kastanienbaums, der die Bushaltestelle mit stacheliger Munition beschießt. Das ist es wirklich. Bewegung. Lärm. Vertrautes.
   Ein Linienbus hält vor ihm. Für einen Augenblick spiegelt sich sein schmales, noch kindliches Gesicht im Fenster wider, braune Augen schimmern nur noch dunkel, die Wangen sind bleich und durchsichtig, auch die herzförmigen Lippen wirken blutleer und blass. Nur sein stolz er hobenes Kinn zeugt von dieser Stärke, seinem inneren Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Als der Bus sogleich weiterfährt, steht er noch immer an derselben Stelle. Er hebt seine Sporttasche auf, zieht den Kragen seiner Jeansjacke hoch. Im Gehen knöpft er sie zu. Mit seinen Sneakers wirbelt er das feuchte Laub auf. Kein Auto fährt auf der Straße. Ein Fuß vor den anderen. Mehr als die Zahl vierzehn. Erst langsam und dann schneller werdend. Übermütig schleudert er seine Tasche in die Luft.
   »Nina!«
   Mit dem Schrei knallt die Tasche auf das Dach eines geparkten Kombis. Schnell schnappt er sie sich und rennt weiter.




JACQUELINE


Die Vorhänge sind nicht zugezogen. Sonnenlicht erhellt das Hotelzimmer, in dem Kleidungsstücke den Weg von der Tür bis zum Bett markieren. Tupfer im blauen Teppich. In Hast verloren. Ein brauner Herrenlederschuh liegt auf dem kleinen Nachttisch. Auf seiner Spitze ruht der Telefonhörer. Die Bettdecke haben sie auf den Sessel neben dem Fenster geworfen. Zusammen sind sie eins. Nackt. Bis auf die hochhackigen knallroten Pumps und die schwarzen Seidenstrümpfe. Sie liegt auf der Seite. Den Kopf halb ins Kissen gedrückt. Jürgen schmiegt sich von hinten an sie. Seine Hand gleitet zärtlich von ihrem Po über die Hüfte, den Rücken entlang bis zur Schulter. Dann berührt er die vollen Brüste und wandert hinunter zu ihren Schenkeln. Sie atmet tief ein. Die Muskeln in ihrem Körper spannen sich. Sie will sich drehen, doch Jürgen drängt sich näher an sie. Versinkt in ihrem Schoß. Sein Hinterkopf. Sein lockiges Haar. Seine geschlossenen Augen. Konzentration. Ihr lautes Atmen. Ihre Hand, die sich ins Laken vergräbt. Ihre Beine, die sich strecken. Spannung. Sie kommt in seinem Mund. Er ergießt sich über das Laken. Ruckartig richtet er sich auf. Mit seinen Augen sucht er schnell seine Sachen zusammen.

In ihren roten Pumps stolziert sie zielstrebig zum Aufzug.
Rufen. Warten.
Sie betritt den schmalen Fahrstuhl.
Er folgt ihr.
Die Aufzugtür schließt sich.
Ein Zeigefinger drückt auf «E« wie «Erdgeschoss«.
   »Ich mag das nicht.«
   Jürgen schaut sie dabei nicht an. Er streift über seinen hellen Trenchcoat.
   »Das hat man vorhin nicht gemerkt. Und die anderen Male auch nicht.«
   »Ich mag es eben jetzt nicht mehr. Ich bin nicht schwul.«
   Sie presst ihre Chanel-Handtasche an sich. Jacqueline. Ihre glatten braunen Haare fallen über ihre Schultern. Heller Puder auf die dreimal operierte Stupsnase. Etwas Rouge auf hohen Wangen. Dezent. Dunkelroter Lippenstift verhilft schmalen Lippen auf die Sprünge. Perfekt. Ein türkises Seidentuch ziert das Revers ihres dunkelblauen Kostüms. Jacqueline.
   »Du bist wirklich zu dumm.«
   Sie presst die Worte heraus. Die Aufzugtür öffnet sich und sie geht hinaus.

Schnell kommt sie aus dem Hotel, zwei Sterne, zwei zu viel, und biegt rechts ab. Laufen, ohne sich umzudrehen, die menschenleere Seitenstraße entlang. Wütend, enttäuscht. An der nächsten Kreuzung rettet sie sich in eine kleine Gasse. Da ist er. Sein weißer Mercedes. Hinten ein Kindersitz. Jürgen. Er sieht nicht, dass sie ihren Körper krampfhaft an eine Hauswand drängt. Kein Versteck. Nur einfach etwas Halt. Sie fühlt die Tränen. Hoch wasser. Jetzt ist er weg. Und noch immer steigt das Wasser an. Aus der Handtasche holt sie ihr Handy.

   »Ich bin's. Kannst du mich beim Kanada abholen? … Was los ist?! Ich habe die Männer so satt! Das ist los!«
   Beim Sprechen streicht sie sich mit dem Zeigefinger die Tränen weg. Als sie das Handy in die Tasche zurücksteckt, bemerkt sie ein kleines Mädchen. Es steht am offenen Fenster links neben dem Eingang. Sie bürstet gelangweilt ihr hellbraunes Haar. Mutterliebe hat sie niedlich angezogen. Faltenfreie Bluse, bis oben zugeknöpft. Darüber schimmert eine silberne Halskette mit ihrem Sternzeichen. Jungfrau.
   Jacqueline zündet sich eine Zigarette an. Ruhe breitet sich in ihrem Körper aus.
   »Schon mal geraucht?«
   Der Arm, der die Bürste hält, wird demonstrativ gesenkt.
   »Nein. Aber das muss auch nicht sein. Ich bin ja erst zehn.«
   Jacqueline rollt mit den Augen.
   »Was ist das nur heute für ein Tag?!«
   Sie nimmt einen tiefen Zug und geht um die Ecke.

GERDA


Weiße lange Haare rollen sich zum Dutt. Sie haben einen leichten Gelbstich. Schon seit zwei Wochen wurden sich nicht mehr gewaschen. Stahlblau und wach sind die Augen. Lippen haben ihre Fülle noch nicht verloren und dennoch wirkt der Mund hart. Vereinzelte kleine schwarze Barthaare werden stets sorgfältig gezupft. Faltenfreie Haut, wie schon ihre Mutter. Energisches Kinn. Um ihren Hals trägt sie ein kleines goldenes Kreuz. Die rosa Bluse ist am Ärmel leicht eingerissen. Der blaue Rock verblasst. Ausgetretene Hausschuhe. Sie sitzt auf einem wackligen Holzhocker und wärmt sich vor dem offenen Gasofen, in dem bläuliche Flammen lodern. Auf ihrem Schoß balanciert sie einen Teller mit einer Roggenbrotscheibe. Wieder und wieder ist das gelbe Geschirrstück in den Jahren heruntergefallen. Wieder und wieder wurde es geklebt. Dunkelbraune Risse.
   Sie schmiert sich ein Butterbrot. Auf der vorderen Herdplatte abgestellt, verläuft die über weiche Butter auf einer kleinen Untertasse. Dahinter fängt eine Plastiktapete Fettspritzer vom täglichen Kochen auf. Motive Delfter Kacheln. Blau. Blau sind auch die vier Meter hohen Wände und der Stuck an der Decke. Nur dort, wo die Farbe abblättert, leuchtet helles Grau hervor. Von draußen auf dem Fensterbrett schauen ärmliche Alpenveilchen herein und sehnen sich nach dem Sturz in den Garten. Mickrig ihre Blätter. Versteinert die Erde. Doch in diesem Haus gibt es keine Bewegung mehr. Die Geschirrspülmaschine leckt nur noch ab. Der Kühlschrank spielt Eiszeit. Die Kaffeemaschine röchelt. Das Leben ist anders wo.
   »Gerda?«
   Zittrig ist diese Männerstimme am anderen Ende des langen Ganges. Wachsam und zurückhaltend.
   Sie schmiert ruhig ihr Brot weiter, doch der gereizte Unterton in ihrer klaren Stimme wirkt warnend.
   »Drücken Sie, Johann! Drücken!«
   Da kläfft schrill der Rehpinscher neben ihr und springt auf.
   »Nicht du, Chéri!«
   Sie schneidet ein Stück vom Brot ab und gibt es ihrer Hündin, die sofort danach schnappt.
   »Gerda!«
   Die halbe Portion knurrt.
   »Sie sollen drücken!«
   »Aber ich bin fertig, Gerda!«
   Sie beißt genervt in ihr Butterbrot und steht kauend auf.

Links und rechts führen Türen zu Zimmern. Parkettboden. Ölgemälde aus dem achtzehnten Jahrhundert in vergoldeten Rahmen im langen Flur. Ein Mönch in braunem Gewand harrt in der Ecke eines Klostergewölbes. Links im Bild ein anderer Bruder auf einer Wendeltreppe. Gerda geht. Schlurfend. Schritt für Schritt. Noch am Brot kauend. Um sie herum springt der Köter.
   »Gerda, ich bin fertig!«
   »Ich komme ja schon!«

Seine braun karierte Anzugshose hängt in den Knien. Dünne Schenkel. Der Hemdkragen ist durchgewetzt. Die Krawatte mit Joghurt befleckt. Das weiße zurückgekämmte Haar betont die hohe Stirn. Blutkrusten auf eingefallenen Wangen zeugen von einer unsicheren Hand beim Rasieren. Seine graublauen Augen sind wässrig. In der von Altersflecken übersäten Hand hält er die Toilettenpapierrolle. Die Töle bleibt neben ihr an der Tür stehen und knurrt ihn an.
   »Haben Sie eins und zwei gemacht?« Johann nickt brav wie ein Kind.
   »Ja, Gerda. Eins und zwei.
   «Streng schaut sie ihn an.
   »Sind Sie sicher?!«
Militärischer Drill. Johann nickt und streckt ihr das Toilettenpapier entgegen. Er zieht sich an der Papierhalterung hoch, in der eine leere Rolle hängt. Gerda reißt das Papier ab und beugt sich nach vorn. Jaulend rast Chéri den Flur hinunter.

 

FRAU VIDAL


Die Eingangstür wird geöffnet. Straßenlärm durchbricht für Sekunden die Stille. Sie kommt schnaufend mit den Einkäufen herein. Chéri springt sie winselnd an. Sie schiebt ihn angewidert mit dem Fuß beiseite, und der Pinscher zieht Leine.
   »Bin wieder da, Frau Berthold!«
   Sie schließt die Tür hinter sich. Als sie in die Küche kommt, spürt sie sofort die Hitze.
   »Qué calor!«
   Sie stellt die Einkaufstaschen ab, macht schnell den Ofen aus und klappt ihn zu. Dann öffnet sie das Fenster.
   »Ihr braucht wieder Wasser.«
   Als sie sich umdreht, sieht sie neben dem Hocker eine Lache. Ihr welliges schwarzes Haar wippt aufgeregt, während sie angewidert den Kopf schüttelt. Unter der Spüle zieht sie einen Eimer mit gelblichem Wasser hervor, in dem bereits ein Scheuerlappen schwimmt. Sie bückt sich etwas mühsam, runde Formen machen ihr zu schaffen, und wischt die kleine Pfütze auf. Dabei fällt aus ihrer Manteltasche ein Brief. Sofort hebt sie ihn auf und streicht sanft mit den Fingern über den Namen des Absenders. Mein Junge. Der Brief ist noch ungeöffnet. Sie küsst das Medaillon der Jungfrau Maria, das an einer Kette um ihren Hals hängt. Winzige Falten kokettieren über der Oberlippe. Dann hebt sie den Kopf und lehnt ihn leicht zurück, um auf kommende Tränen zurückzudrängen.
   »Frau Vidal! Ououuu! Können Sie uns nicht mal helfen?!«
   Unbarmherzig wird sie in ihre Welt zurückgerufen. Schnell steckt sie den Brief wieder tief in ihre Tasche.
   »Ich komme, Frau Berthold!«
   Der Scheuerlappen plumpst laut in den Eimer.




JEANNE UND MONA


»Ich bin ja schon gespannt, wie der aussieht.«