image

image

Über dieses Buch

Der Wolf ist eins der interessantesten Tiere des Volksmärchens, ja, der gesamten erzählenden Literatur – weltweit. Keineswegs ist er nur einfach »der böse Wolf«. Er hat artspezifische Eigenschaften und Fähigkeiten – vergleichbar denen des realen Wolfes in freier Wildbahn. Seine individuellen Charakterzüge sind – wie bei allen Tieren im Märchen – eher aus dem Blickwinkel des Menschen gesehen und der Fabulierfreude des Erzählers geschuldet. Die Fabel bedient sich des Wolfs, um negative Eigenschaften des Menschen zu spiegeln. Im Zaubermärchen verhilft er mit seinen natürlichen und übernatürlichen Kräften dem Helden zum Glück.

Über die Herausgeberin

Ingrid Jacobsen, Märchenerzählerin und Seminarleiterin. Sie lebte über zwanzig Jahre mit ihrer Familie in Lateinamerika und sammelte Märchen der mündlichen Tradition. 2001-2007 Vizepräsidentin der Europäischen Märchengesellschaft, verantwortlich insbesondere für die Erzählförderung. Mitherausgeberin verschiedener Kongressbände der EMG und mehrerer Märchen-Anthologien.

Märchen
von Wölfen

Herausgegeben
von Ingrid Jacobsen

image

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

E-Book-Ausgabe

© 2016 by Königsfurt-Urania Verlag GmbH

Lektorat: Claudia Lazar, Kiel

Umschlaggestaltung: Jessica Quistorff, Seedorf, unter Verwendung eines Motives von Fotolia.com: »white wolf« © Elena Schweitzer

ISBN 978-3-86826-336-7

Inhalt

Einführung: Der Wolf in Märchen, Mythen und Sagen

Erschaffung des Wolfes

Die Fesselung des Wolfes

Romulus und Remus

Coyote holt die Sonne

Der Wolf und der Wachhund

Holzhauer und der verbrühte Wolf

Der Esel und der Wolf

Der dumme Bauer

Der Esel von Montastruc

Der weiße Wolf (De witt Wulf)

Der Wolf und der Fuchs am Brunnen

Der Wolf, der Fuchs und das Kamel

Der Bär, der Wolf, der Fuchs und der Hase auf dem Medwischer Margrethi

Wolf und Fuchs im Hochzeithause

Der Johannistag der Wölfe

Der Wettlauf des Coyoten mit der Schildkröte

Der Fuchs, der Wolf und der Bär

Der Traum des Wolfes

Der Wolf und die Sau mit den zwölf Ferkeln

Der Wolf und die Geiß mit ihren zehn Zicklein

Das Pferd und der Wolf

Alte Dienste vergisst man

Der Wolf als König, der Fuchs sein Minister

Der König der Wölfe

Der weiße Wolf

Das Wolfskind

Das Märchen von Iwan Zarewitsch, dem Feuervogel und dem grauen Wolf

Die Prinzessin auf dem Baum

Die lebende Kantele

Die drei Tiere

Von dem Riesen, der kein Herz im Leibe hatte

Als der Wolf von den Amseln das Fliegen lernte

Der Wolf und die Heuschrecke

Der Wolf und der Fuchs beim Kürschner in der Beize

Der Zigeuner, der Wolf, der Fuchs und der Esel in der Wolfsgrube

Der Dom zu Aachen

Wolf und Reiher

Der Knabe, der ein Wolf wurde

Der Märchenfreund

Der Wolf und der Fuchs

Das Werwolfsfell

Von einem Mann, der in einen Wolf verwandelt wurde

Der Werwolf

Der Werwolfstein

Steinsuppe

Die Geschichte des alten Wolfs

Auch ein toter Wolf kann beißen

Des Freiherrn von Münchhausen Reise nach Russland und St. Petersburg

Der Wolf auf dem Totenbett

Der Wolf und die Schafe

Nachwort: Wölfe in ihrem Lebensraum

Quellen

Literatur

Einführung: Der Wolf in Märchen, Mythen und Sagen

In dem Märchen von der Steinsuppe bittet die Ente den Wolf, »ein paar dieser schrecklichen Wolfsgeschichten zu erzählen« und seine Meinung darüber zu sagen. »Schreckliche Wolfsgeschichten« – denkt sie dabei an »Rotkäppchen« und an »Der Wolf und die sieben Geißlein«? Märchen, mit denen wir Menschen aufgewachsen sind und die unser Bild vom »bösen Wolf« nicht nur im Märchen geprägt haben. Der Wolf entzieht sich dieser Bitte, da die Steinsuppe fertig ist und gegessen werden soll. Was er darüber denken könnte, erzählt ein kurzes russisches Märchen: Der Wolf ist es leid, sein Leben lang von Jägern, Schäfern und Hunden verfolgt zu werden. Er will auswandern in eine andere Welt. Ein Weiser, dem er auf seinem Weg begegnet, fragt, ob er seine Zähne dabei habe. – »Natürlich.« – Darauf der Weise: »Solange du die hast, wirst du nirgends Ruhe finden.«

Erinnern wir uns an das Gespräch zwischen Rotkäppchen und dem »bösen Wolf«, wie die Brüder Grimm es notierten:

»Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig haußen in dem Wald.« (KHM 26)

In Ludwig Bechsteins »Märchenbuch« von 1857 heißt es weiter: »… und wachsen so gute Kräuter hierinne, Heilkräuter, mein liebes Rotkäppchen.« – »Ihr seid gewiss ein Doktor, werter grauer Herr?«, fragte Rotkäppchen, »weil Ihr die Heilkräuter kennt. Da könntet Ihr mir ja auch ein Heilkraut für meine kranke Großmutter zeigen!« – »Du bist ein ebenso gutes als kluges Kind!«, lobte der Wolf. »Ei, freilich bin ich ein Doktor und kenne alle Kräuter!« Er nennt und zeigt sie nun: Wolfsbast und Wolfsbeeren, Wolfsmilch und Wolfswurz, und Rotkäppchen wundert sich, dass alle nach dem Wolf heißen. Der Wolf darauf: »Nur die besten, nur die besten, mein liebes, frommes Kind!« Aber alle, die er genannt, sind Giftkräuter. Und dann verabschiedet er sich höflich, denn er muss »eine alte schwache Kranke besuchen«!

Der Wolf ist eins der interessantesten Tiere des Volksmärchens, ja, der gesamten erzählenden Literatur – weltweit. Keineswegs ist er nur einfach »der böse Wolf«. Er hat artspezifische Eigenschaften und Fähigkeiten – vergleichbar denen des realen Wolfes in freier Wildbahn. Seine individuellen Charakterzüge sind – wie bei allen Tieren im Märchen – eher aus dem Blickwinkel des Menschen gesehen und der Fabulierfreude des Erzählers geschuldet. Zugunsten eines unvoreingenommenen Lesevergnügens und eigener Entdeckerfreude ist auf eine Klassifizierung durch Kapitel verzichtet worden.

Wolfsmythen finden wir in vielen Kulturen. In der nordischen Mythologie hat Odin zwei Wölfe als treue Begleiter. Der Fenriswolf jedoch erschreckt die Götter durch sein ungeheuerliches Wachstum und seine riesige Körperkraft. Nur mit List und durch Zauberei der Zwerge können sie ihn fesseln und binden.

In Erzählungen nordamerikanischer Indianer ist der Präriewolf, der Coyote, Ordner der Welt: Mit Hilfe von Mäusen und Raben raubt er den Sonnenmenschen die Sonne und lässt sie am Himmel aufhängen zur Freude und zum Nutzen aller.

Wie ist es aber zu erklären, dass uns der Wolf im Tiermärchen nicht nur als Heuchler und Übeltäter begegnet, sondern viel häufiger als dumm, eitel und gefräßig und in seiner Gier allzu leichtgläubig und nachsichtig? Sogar von den schwächsten Tieren lässt er sich überlisten, wird verlacht und verhöhnt, von den Menschen geprügelt oder gar erschlagen und verschwindet dann mit eingezogenem Schwanz, seine Wunden leckend, im Wald. Keiner scheint ihn da so recht zu fürchten.

Aber gerade diese Erzählungen entlarven den Erzähler, der wortstark gegen seine Angst an erzählt. Ein Feind, ein Widersacher, ein ernstzunehmender Konkurrent – was der Wolf seit Urzeiten ist – erscheint weniger gefährlich und flößt weniger Angst ein, wenn man sich über ihn lustig machen kann. Und das geschieht hier: Der Wolf tanzt und singt mit den feiernden Bauern gerade so wie sie, wenn er tüchtig geschmaust und getrunken hat. So übermütig ist er keiner Warnung zugänglich und muss – entdeckt – dafür leiden.

Der Erzähler weiß, dass ein Stärkerer besiegt werden kann, wenn der körperlich Schwächere nur beherzt genug ist, wach seine Klugheit einsetzt, die Schwächen seines Gegners kennt und nutzt. Darin ist wie kein anderer der Fuchs ein Meister. Immer wieder versteht er es, die Unersättlichkeit seines Gegenspielers zu reizen, indem er scheinbar gemeinsame Sache mit dem Verhassten macht, um seines eigenen Vorteils willen, um ihn zu verhöhnen oder sich selbst aus einer unangenehmen Situation zu befreien.

Auch die Schildkröte weiß ihre Schlauheit zu nutzen und gewinnt den Wettlauf mit dem Coyoten, wie der Igel jenen mit dem Hasen.

Aber nicht alle Tiermärchen zeigen den Wolf als Verlierer. Der Hund, der ihn überreden will, mit ihm gemeinsam Haus und Hof zu hüten, um dafür alle Vorteile eines Haustieres zu genießen, vor allem regelmäßiges Fressen, bekommt eine Absage; denn der Wolf erkennt, dass er solchen Wohlstand mit seiner Freiheit bezahlen muss. Als er im Alter einen Vertrag mit den Schäfern schließen will, die darauf nicht eingehen wollen, raubt er eins ihrer Kinder, so dass sie seine Überlegenheit anerkennen müssen – es ist zu spät für einen Kompromiss.

Eine besondere Rolle spielt der Wolf in der Tierfabel. Hier werden die schlechten Eigenschaften und sträfliches Verhalten des Menschen auf den Wolf projiziert: Der Erzähler kann so darin seiner Kritik am Mitmenschen straflos freien Lauf lassen.

Die beste Figur macht der Wolf im Zaubermärchen. Hier taucht er im finsteren Wald vor dem erschrockenen Helden auf mit den Worten: »Fürchte dich nicht, sag mir lieber, was du hier suchst.« Er gibt Rat, bietet seine Hilfe an, falls jener in Not gerät, und hält sein Versprechen, meist ohne jede Vorleistung. Er ist ein zuverlässiger Helfer. Daneben gibt es im selben Märchen auch die Wölfe der Hexe, die den Helden und sein Pferd bedrohen.

Der Wolf als Helfer und Freund begleitet den Helden auf seiner Suchwanderung. Er kämpft an seiner Seite. Als sein Reittier ist er schneller als der Wind, manchmal fliegt er sogar. Er weiß alles, rät immer das Richtige und hält geduldig das Fehlverhalten seines Schützlings aus. Ja, er verwandelt sich sogar in eine andere Gestalt, wenn es dem Glück seines Freundes dient, und überlistet oder betrügt dessen Gegenspieler. Er kennt das Mittel, Tote wieder zum Leben zu erwecken. Und am Ende verschwindet er, wie er gekommen ist.

Im Kampf mit dem Helden zeigt er sich als fairer Gegner. In einer Episode des französischen Märchens »Der Mann in allen Farben« rät er sterbend dem Sieger: »Iss jetzt mein Fleisch und trink mein Blut, da ich von deiner Hand sterbe; denn du bedarfst des Mutes und hast noch nicht ausgelitten.«

Im Tierbräutigam-Märchen ist der Wolf ein verzauberter Prinz. Den Wanderer, der sich im Wald verirrt hat, verschont er nur unter der Bedingung, dass er ihm das verspricht, was ihm bei seiner Heimkehr als Erstes entgegenkommt. Es ist natürlich die jüngste Tochter, deren Liebe allein ihn aus seiner Tiergestalt erlösen kann.

Verwandlungen zwischen Wolf und Mensch – wie auch zwischen Menschen und anderen Tieren – sind typisch für die Märchen der Naturvölker und deuten auf eine Ur-Zeit, in der Mensch und Tier eine enge Lebensgemeinschaft bildeten.

Von ganz anderer Qualität sind die Werwolfsgeschichten. Sie sind unheimlich und entspringen dem Aberglauben. Hier ist, was dem Wolf zustößt, fast tragisch zu nennen. Ein Mensch verwandelt sich, wird plötzlich zum Wolf, zu einer gefährlichen Bestie, aus freien Stücken, nachts und geheim oder durch einen bösartigen Zauber. Er wird dann gleichermaßen, ob in menschlicher oder wölfischer Gestalt, gefürchtet und verfolgt wie Hexen und Teufel.

Die vorliegende Sammlung spiegelt das ambivalente Verhältnis von Wolf und Mensch wider. Einerseits wird der Wolf als starkes und überlegenes Tier geachtet, andererseits gilt er als Symbol des Bösen. Er ist ein gefürchteter Räuber, aber auch ein zuverlässiger Helfer des Menschen. Als dummer Wolf wird er übertölpelt und verlacht. Neben dem Fuchs ist der Wolf das einzige Tier, das ein so breites Märchenspektrum aufweist.

Das Wolfsbild hat sich im Laufe der Jahrtausende gewandelt. An die historische Bedeutung des Wolfes erinnern zahlreiche Orts- und Flurbezeichnungen sowie viele deutsche Vor- und Zunamen. Die Rückkehr des Wolfes nach Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat zu kontroversen Diskussionen über dieses faszinierende Tier geführt. Märchen, Mythen, Sagen und Fabeln gewinnen auf diesem Hintergrund neue Bedeutung.

Ingrid Jacobsen

Erschaffung des Wolfes

Als der liebe Gott die Welt und alle Tiere erschaffen hatte, fragte er den Teufel: »Meinst du wohl auch, dass mein Werk lobenswert sei? Oder glaubst du, dass es noch an einer wichtigen Pflanze oder einem nützlichen Tiere fehlt oder dass die Berge nicht hoch genug und die Gewässer nicht tief genug sind?«

Diese huldvolle Frage war dem Teufel ganz nach dem Sinn.

Er fasste sich ein Herz und antwortete: »Tadel verdient dein Werk wohl nicht, aber es will mich doch bedünken, als ob ein Tier noch mangelte.«

»Welches denn?«, fragte der Schöpfer verwundert.

»Nun«, sprach der Teufel, »ein Tier, das den Wald schützen und hüten könnte, damit die übermütigen Hirtenknaben nicht die Bäume schälten und die Äste brächen und Hase und Ziege die jungen Triebe nicht benagten.«

»Hab’ ich denn nicht Bär und Schlange in den Wald gesetzt?«, sprach der Schöpfer.

»Das hast du freilich«, sprach der Böse, »aber wenn es Winter wird, so schlafen diese Wächter, und dann ist es mir immer leid, wenn ich den Wald wie eine Waise ohne Beschützer sehe.«

Dabei gedachte aber der Teufel, selbst ein böses Tier zu schaffen, das die wehrlosen Geschöpfe Gottes würgen und überall Arges anstiften sollte.

»Welch ein Tier fehlt denn deines Bedünkens?«, fragte der Schöpfer.

»Jenes Tier, das ich selbst erschaffen möchte, wenn du es erlaubst«, sprach der Teufel bittend.

»Es sei«, sagte der Schöpfer, »und ich will nichts dawider haben.«

»Aber um etwas bitte ich dich noch!«, sprach der Teufel weiter. »Sieh, ich habe nicht die Macht, meinem Geschöpf das Leben zu verleihen. Wenn du mir dazu einen Spruch gäbest, so würdest du leicht merken, dass mein Geschöpf nicht schlechter geraten wird, als die deinen.«

»Auch das will ich erfüllen! Wenn du dein Geschöpf fertig hast, und wenn ihm Mund und Augen auf dem rechten Fleck sitzen, so rufe: Steh auf und verschlinge den Teufel!«

»Oho, damit wird es noch gute Weile haben!«, brummte der Teufel für sich und ging weg in einen tiefen Wald. Hier las er Steine und altes Schuhwerk, Ruten und Moos auf und trug auch noch von der Dorfschmiede zwei glühende Funken und einen Haufen eiserner Nägel herbei.

Darauf ging er ans Werk. Den Rücken des Tieres schuf er aus einem derben Zaunpfahl und den Kopf aus einem Baumstumpf, flocht die Brust aus Ruten und Schuhleder zusammen und baute die Lenden aus Backsteinen auf. Aus einem Farnwedel machte er dem Tier einen Schweif und aus Erlenklötzen die Füße; in die Brust aber setzte er ihm einen Stein als Herz. Nun bezog er noch den Körper mit Moos und setzte die glühenden Funken als Augen, die Nägel aber als Krallen und Zähne ein. Als er so den Leib des Tieres erschaffen hatte, da freute sich der alte Teufel über alle Maßen und gab ihm den Namen Wolf. Aber eine Seele hatte der Wolf noch nicht. Da fiel dem Meister der Spruch ein und er schrie: »Wolf, stehe auf und verschlinge …« Da erhob der Wolf seinen Kopf und schmatzte mit der Zunge. Darüber bekam der Teufel einen solchen Schreck, dass er kein Wort weiter herausbrachte. Aber bald besann er sich wieder auf sein böses Werk und rief hastig: »Wolf, stehe auf und verschlinge den Herrgott!« Aber der Wolf lag still und rührte nicht einmal seinen Schweif. Wohl sagte der Teufel seinen Spruch zehnmal her, aber der Wolf achtete dessen nicht.

Nun ging der Teufel zum Schöpfer zurück und rief: »Der Spruch, den du mir gabst, ist nicht der rechte, denn der Wolf will nicht aufstehen!«

»So?«, sprach der Schöpfer, »hast du denn gerufen: Steh auf und verschlinge den Teufel?«

Diese Rede hatte der Teufel nicht erwartet, bestürzt konnte er kein Wort antworten und musste in Schanden wieder abziehen.

Wohl versuchte er es noch ferner und rief: »Wolf, steh auf und verschling den Herrgott!« Aber es half alles nichts.

Darauf lief er eine weite Strecke von dem Wolf weg und schrie: »Wolf, steh auf!« – und fügte dann ganz leise hinzu: »Verschling den Teufel!«

Du meine Güte, wie der Wolf jetzt aufsprang! Wie der Wind war er hinter dem Teufel her und hätte ihn gewiss erwürgt, wenn der Teufel nicht unter einen großen Stein geschlüpft wäre.

Seitdem ist der Wolf des Teufels ärgster Feind und sucht absichtlich alle Gelegenheit, den Bösen zu ängstigen und zu kränken. Sein Rückgrat ist steif, wie ein gerader Zaunpfahl, Krallen und Zähne sind spitz wie Eisennägel, und sein Fell ist mit dichten Haaren bedeckt. Die Augen glühen ihm wie zwei Feuerfunken im Kopfe. Sein Herz ist wie aus Stein, wenn er die unschuldigen Lämmer raubt.

Estland

Die Fesselung des Wolfes

»Auch der Wolf ist freudenlos; gefesselt erwartet er der Asen Untergang.«

Der Schwertgott Tyr allein hatte den Mut, täglich zum Fenriswolf zu gehen, um ihn zu füttern; und er fürchtete sich nicht. Aber als er sah, dass der Wolf von Tag zu Tag wuchs und immer stärker und reißender wurde, und er dann der Weissagungen gedachte – die denselben zum Verderber der Götter, zu Allvaters Mörder selbst bestimmten – da mochte er nicht länger allein verantwortlich sein für die Sicherheit aller; er ging zu Odin und meldete ihm das immer noch währende Wachsen des Wolfes. Fürsorglich ordnete jener, dass die Götter eine Fessel machen sollten und versuchen, ob sie den Wilden darin fängen?

Und die Götter machten eine starke Kette von Erz, gingen damit zum Wolf und reizten ihn durch Spott, seine Kraft daran zu versuchen. Willig ließ der Wilde die Glieder sich gürten mit der schwer geschmiedeten Fessel. Aber kaum hatten die Asen die Enden geschlossen, da dehnte er sich wie spielend, die Kette zerbarst und fiel in Trümmern von ihm ab.

Nun fertigten die Götter eine neue, die war noch einmal so stark wie die erste. Doch als sie mit dieser zum Wolf kamen, erkannte der sogleich ihre verdoppelte Stärke und weigerte sich der neuen Probe. Da versprachen die Asen ihm Weltenruhm, wenn er auch diese Fessel sich anlegen lasse und sie sprenge durch die Gewalt seiner Muskeln. Das lockte den Wolf. Und bedenkend, dass mit ihm auch seine Kraft gewachsen seit jener ersten Probe, bot er wehrlos sich noch einmal seinen Feinden. Schnell umschnürten ihn diese mit der schweren Kette und festigten sie so, dass er kaum atmen konnte; dann traten frohlockend sie zurück und glaubten für immer unschädlich das Ungeheuer. Der Wolf aber schüttelte, reckte und dehnte sich mit Macht, und siehe! Auch diese Kette zersprang – abermals war frei der Gefesselte.

In Fürchten verwandelte sich schnell das Frohlocken der Götter. Beschämt erkannten sie, dass nimmer wohl ihnen gelänge, was sie zweimal vergeblich versucht. – Zähnefletschend knurrte der Wolf: ha! Nun wollte bald als Meister er allen sich zeigen in Asgard.

Odin aber hieß Skirnir kommen, den Schwertgesellen und Diener Freirs, der schon einmal bei schwieriger Botschaft sich bewährt hatte, als er für den Reichtum spendenden Ernte-Gott werben sollte um Gerda, die weißarmige, leuchtende Jungfrau.

Diesen sandte Allvater hinunter zu den Schwarzelfen, ob etwa sie, die Schwarzkunstkundigen, vermöchten zu schmieden eine Kette, die stärker als des Wolfes Kraft. Skirnir ging. Nach neunmal neun Nächten kehrte er zurück und brachte den Göttern ein Band, das die Unterirdischen gewebt von sechserlei Dingen: von den Sehnen der Bären, dem Bart der Weiber, dem Schall der Katzentritte, dem Speichel der Vögel, der Stimme der Fische und den Wurzeln der Berge. – Und das Band war so schlicht und weich wie ein Seidenband, dünn wie von Spinnweben gewirkt erschien es den Staunenden. Aber als einer nach dem anderen seine Kraft daran versuchte und alle es unzerreißbar fanden, da merkten sie wohl, dass ein Zauber darin stecke.

Und sie traten zum dritten Mal vor den Wolf, zeigten ihm die weiche Fessel und fragten, ob er wolle zum dritten Mal rühmlich erproben seine Kraft?

Der aber sprach: »Wenig Ehre möchte ich gewinnen, ließ ich mich binden vom Bande!«

Da höhnten die Asen: »Fürchtest du Spinnweb? Und bist doch der furchtbare Fenriswolf, der klirrende Ketten gesprengt im Spiel!«

Der – Lokis arger Sohn –, Unheil ahnend, antwortete listig: »Wohl bin ich der Wolf und kenne meine Kraft, doch wittre ich Verrat in dem Bande. So aber einer von euch seine Hand in meinen Rachen legt zum Unterpfand, dass ohne Falsch es hergeht, will ich es wagen, damit keiner könne der Feigheit zeihn den Fenriswolf!«

Erschreckt sahen die Götter einander an, nicht gewillt, die eigene Hand zu wagen an fraglosen Verlust.

Da trat Tyr, der Tapfere, vor und legte entschlossen seine Rechte in den Rachen des Wolfes. Mutvoll opferte er sich für Odins ganzes Geschlecht; er wusste wohl, was er tat, denn niemand kannte besser als er die zermalmende Kraft des knirschenden Gebisses.

Nun nahmen die anderen das Band und schlangen es wie spielend um des Wolfes Glieder und knüpften es lose. Noch ehe sie zurücktreten konnten, reckte von Misstrauen erfüllt das Ungeheuer sich mächtig. Aber siehe! Unter seiner Berührung erhärtete sich das Band, und je mehr er sich anstrengte, desto stärker ward es.

Da lachten die Asen laut voll Jubel, dass also sich bewährte der Schwarzelfen Werk. Nur Tyr lachte nicht, denn er verlor seine Hand. In geifernder Wut biss der Wolf zu – und fortan konnte der tapfere Schwertgott nur mit der Linken schwingen sein Schwert.

Als die Götter merkten, dass völlig gebunden ihr Feind und ganz unmächtig, ihnen zu schaden, da schlangen sie das Ende der Fessel durch einen großen Felsen, senkten diesen tief in der Erde Grund und festigten ihn dort und häuften oben darüber noch viele andere Felsblöcke, dem ersten Widerhalt zu geben.

Furchtbar riss der Wolf die Fänge von einander, schnappte nach seinen Bändigern und wollte sie verschlingen. Diese aber steckten, damit sie ihn ganz unschädlich machten, ein Schwert aufrecht so in seinen Rachen, dass der Griff sich hinter den Unterzähnen steifte, während die Spitze ihm den Oberkiefer durchbohrte. So war dem Fenriswolf der Rachen gesperrt für immer. Entsetzlich heulte er vor Wut und Schmerz, und soviel Geifer rann seitwärts aus seinen Lefzen, dass ein Fluss daraus ward.

Fest gefesselt liegt das Ungeheuer, solange das Gute die Macht behält in den Herzen der Götter und der Menschen. Wenn aber das Böse die Oberhand gewinnt in der Welt, verliert der Elfen Zauberband seine Kraft (es heißt, dass es das Sinnbild des Gesetzes sei – unsichtbar, und doch stärker als des stärksten Mannes Stärke), dann reißt sich der Fenriswolf los und nimmt wild anstürmend furchtbare Rache für seine Qual:

»Die Sonne wird, die strahlende, schöne,

Am klaren Himmel würgen der Wolf.

Würgen wird er den Vater der Welten

Im letzten Streite, der Fenriswolf.«

Edda

Romulus und Remus

Aeneas war der Stammvater der albanischen Könige, und jetzt eben waren in Folge eines Todesfalles zwei Brüder, Numitor und Amulius, die Erbberechtigen. Amulius machte aus dem Ganzen zwei Erbschaftsteile, indem er der Königswürde das vorhandene Vermögen und das aus Troja mitgebrachte Gold gegenüberstellte. Numitor wählte den Thron. Somit besaß Amulius das Geld und hierdurch eine weit größere Macht als Numitor, dem er sodann mit leichter Mühe den Thron wieder entriss. Indessen fürchtete er: dessen Tochter möchte eine männliche Nachkommenschaft erhalten, und ernannte sie daher zur Vestalin, so dass sie ledig bleiben und stets als Jungfrau leben sollte. Bei einigen heißt sie Ilia, bei anderen Rhea oder auch Silvia.

Nun verging keine lange Zeit, als man die Entdeckung machte, dass sie – gegen das bestehende Gesetz der Vestalinnen – sich dennoch in gesegneten Umständen befand. Ihr drohte die Todesstrafe, deren Vollzug nur durch die dringendsten Fürbitten abgewendet wurde, welche des Königs Tochter, Antho, bei ihrem Vater einlegte. Doch wurde sie eingesperrt und musste ihre Tage in völliger Abgeschiedenheit zubringen, um nicht ohne Vorwissen des Amulius Mutter zu werden. Demungeachtet gebar sie bald darauf zwei Knaben von ungewöhnlicher Größe und Schönheit. Umso mehr geriet Amulius in Furcht, weshalb er einem Diener befahl, die Kinder fortzutragen und auszusetzen. Dieser Diener soll nach einigen Faustulus geheißen haben, während andere nicht sowohl ihm, als vielmehr dem Auffinder der Knaben, obigen Namen erteilen.

Er legte also die beiden Kinder in eine Wanne und ging sodann an das Ufer des Flusses, um sie hineinzuwerfen. Als er jedoch den Fluss stark angeschwollen fand und mit tobendem Wellenschlag dahinrauschen sah, bangte es ihm, näher hinzutreten. Er setzte sie daher bloß in der Nähe des Uferrandes auf den Boden, worauf er sich wieder entfernte. Aber der Wasserschwall des ausgetretenen Flusses fasste die Wanne unten, hob sie in die Höhe und brachte sie ganz ruhig an einen sanft emporsteigenden Platz, der jetzt Kermalus heißt, vor alters aber »Germanus« genannt wurde, – wahrscheinlich, weil »Germanus« auch die Bedeutung von »Brüdern« hat.

In der Nähe befand sich ein wilder Feigenbaum. […] Hier lagen nun die Kinder, als eine Wölfin, der Sage nach, sich einstellte, um sie zu säugen, und ebenso ein Specht, um sie nähren und bewachen zu helfen. Beiderlei Tiere galten dem Mars für heilig. […] und wegen dieser Umstände hauptsächlich fand die Mutter der Kleinen alsbald Glauben für ihre Versicherung, dass Mars der Vater sei. […]

Nach anderen soll der Name der Amme wegen seines Doppelsinns die Veranlassung geworden sein, dass die Sage ins Mythische ausschweifte. Denn »Lupa« bedeutet bei den Latinern nicht nur die »Wölfin« unter den Tieren, sondern zugleich eine unzüchtige Weibsperson; und eine solche soll die Frau des Faustulus, der die Kinder aufzog, wirklich gewesen sein. […]

Die Kinder wurden also von Faustulus, dem Schweinehirten des Amulius, aufgehoben, ohne dass es eine Seele wusste. Doch behaupten einige, die sich mehr an die Wahrscheinlichkeit halten, dass allerdings Numitor um die Sache gewusst und insgeheim den Ernährer selbst auch mit Nahrungsmitteln für die Kleinen versehen habe. Ja, die Knaben sollen sogar nach Gabii gebracht worden sein, um dort das Lesen und Schreiben zu erlernen, die sich für Sprösslinge aus guter Familie gehören. Auch sie wurden, den Berichten zufolge, von »Ruma« (der Mutterbrust) Romulus und Remus genannt, weil man sie an der Brust der Wölfin hatte trinken sehen.

Plutarch

Coyote holt die Sonne

Coyote zieht mit Leuten, die tanzen und singen können, Tanzutensilien, einem schlafwirkenden Federbusch und vier Mäusen zu den Sonnenleuten, um zu sehen, warum die Sonne nur immer ein kleines Stück über den östlichen Horizont ginge. Er schlägt den Sonnenleuten einen Tanz vor, währenddessen die Sonne, die der Sonnenmann gerade nach Hause bringt, an die Decke gehängt wird. Die Mäuse nagen die Rute durch, an der die Sonne am Dachbalken befestigt ist, und Coyote schläfert die Sonnenleute unterdessen mit dem Federbusch beim Tanzspiel ein. Er tanzt mit seinen Leuten mit der Sonne zum Hause hinaus und bringt sie auf die Erde.

Der rotköpfige Specht, der weitsehende Mann, sah zuerst, wie sie wiederkamen, und rief das ganze Dorf zusammen, um sich das neue Licht anzusehen. Die Sonne wurde im Dorf auf die Erde gelegt und ihr Aufenthaltsort besprochen. Man beschloss, sie in der Mitte des Himmels aufzuhängen. Der Falke berief von jeder Vogelart zwei Brüder, die versuchen sollten, die Sonne in der Mitte aufzuhängen, wie Coyote es gesagt hatte. Nacheinander versuchten es die Kolibri, die kleine Falkenart Dakát, der Adler, der große Eistaucher, die große Falkenart Cétata und andere. Alle außer den Krähenbrüdern hatten es versucht, und es war ihnen nicht gelungen. Als jene hervortraten, lachten alle und machten Bemerkungen über ihren langsamen Flug und ihre geringe Kraft, aber der eine ergriff die Sonne am Rand, und der andere flog darunter, dass sie auf seinem Rücken ruhte. So flogen sie hoch und höher und wechselten ihren Platz öfters, um sich auszuruhen. Als sie emporflogen, riefen sie »a –, a –, a –« bis sie zum größten Erstaunen der Zuschauer eine Höhe erreichten, aus der sie nicht mehr gehört werden konnten, und danach eine Höhe, dass sie von niemandem mehr gesehen werden konnten, außer von dem rotköpfigen Specht, der viel weiter sehen konnte als alle anderen. Er verkündete von Zeit zu Zeit ihren Flug: »Jetzt sind sie sehr weit oben.« – »Sie kommen in die Nähe des Ortes, wo die Sonne hängen soll.« – »Sie fliegen sehr langsam.« – »Sie scheinen sehr matt zu sein.« – »Jetzt ruhen sie.« – »Jetzt sind sie ganz nahe.« – »Jetzt sind sie dort.« – »Sie haben sie aufgehängt.« – »Sie kommen zurück.«

Nach langer Zeit gelangten die Krähen wieder zur Erde, sie schossen herunter wie Kugeln. Die Dorfleute freuten sich sehr, dass die Sonne am rechten Ort aufgehängt war, um ihnen zu leuchten. Sie brachten Perlenkörbe, Tücher und Nahrung für die Krähen zum Geschenk, als Dank für den Dienst, den sie ihnen erwiesen.

Nordamerika

Der Wolf und der Wachhund

Diese Fabel bezeugt, wie süß und lustig das Leben ist, wenn es in Freiheit geschieht und nur dem eignen Willen verantwortlich.

Der Wolf und der Wachhund trafen sich eines Tages im Walde. »Mein Bruder«, sprach der Wolf, »wie mag es kommen, dass du so schön feist und glatt in deinem Balge steckst?«

»Das kommt«, antwortete der Hund, »weil ich der Wächter des Hauses gegen die Diebe und Mörder bin. Von denen getraut sich keiner mehr in die Nähe, keinen Schritt, sage ich dir. Und wenn ich einmal einen von ihnen verbelle, so kriege ich Brot, soviel ich nur will, und mein Herr schenkt mir die Knochen vom Fleisch; und sein Gesinde hat mich nicht weniger lieb. Was sie übrig haben, das werfen sie mir zu, und was einem jeden sonst widersteht, mir wird es angeboten. So wird mir der Bauch gefüllt und der Balg geschliffen. Dazu habe ich mein Dach über dem Kopf, an Wasser fehlt es mir nicht, und da liege ich und freue mich in Ruhe meines Dienstes.«