7. Mystisches Beten, mystisches Hoffen

Beten, das könnte heißen:

Sich des Grundes vergewissern, der uns alle trägt.

Den göttlichen Atem spüren, der mir Leben einhaucht.

Mich der Kraft öffnen, die Mut zum Träumen und zum Kämpfen gibt.

Seine Arme um die Welt legen.

Griet Petersen

In der Einleitung zu diesem Buch habe ich geschrieben, dass in der mystischen Spiritualität das Göttliche als allgegenwärtiger Geist verstanden wird, verkörpert in allen Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen, als der Inbegriff des Ganzen. Da gibt es also kein personales Gegenüber, wie es in den meisten Religionen geglaubt und angesprochen wird. Traditionelle Gebete sind aber meist Bittgebete, in denen man die Gottheit um Trost, Hilfe, Gesundheit, um die Erfüllung seiner Wünsche bittet. Man glaubt an ein Wesen jenseits unserer Wirklichkeit, das man durch das Bitten dazu bewegen müsste und könnte, von dort aus einzugreifen und Situationen zu ändern. Insofern wird man als mystisch glaubender Christ verständlicherweise gefragt, ob oder wie man mit einem apersonalen Gottesverständnis »noch« beten könne.

Ein anderes Gottesbild

Wenn man mich so fragt, versuche ich genauer zu erklären, inwiefern ich von einem apersonalen Gottesverständnis spreche und warum ich den Begriff »Gott« nicht mehr gerne verwende. Dieser Begriff ist aufs Höchste beladen mit den personalen Vorstellungen, wie sie sich in den meisten Religionen, vor allem den monotheistischen, entwickelt haben. Insbesondere in der Bibel – in Altem wie Neuem Testament – finden wir sehr anthropomorphe, also menschenähnliche Bilder von einem Gott, der zürnt, liebt, eifersüchtig ist, Vergeltung übt oder barmherzig ist, mit sich verhandeln lässt; und der mal als menschenähnlicher Engel, mal direkt in Menschengestalt auftritt. Gerade im Gebet wünscht sich der Beter oder die Beterin ein personhaftes Gegenüber, das ihn hört und möglichst erhört und die Macht hat, etwas zu ändern. Solch ein Gott ist also immer im Gegenüber, meist im transzendent-fernen Gegenüber zu uns Menschen und unserer Welt. Und ebendiese Vorstellung ist mystischer Spiritualität fremd, ja steht im Gegensatz zu einem mystischen Verständnis des Göttlichen, das in allem und immer gegenwärtig ist.

Schon der große Mystiker Meister Eckhart hat gelegentlich unterschieden zwischen »Gott« und »Gottheit«, wobei ihm der letztere, abstraktere Begriff lieber war. Ich selbst kann mit meinem Verständnis des Göttlichen gut an die christliche Tradition anknüpfen, indem ich mich beziehe auf den in der Trinität enthaltenen Aspekt Gottes als Heiliger Geist. Denn dieser Heilige Geist entzieht sich jeder Personifizierung. Die Begriffe, die für ihn in der Bibel verwendet werden – hebräisch »ruach« und griechisch »pneuma« –, haben beide das breite Bedeutungsfeld Atem, Wind und Geist. Und dieser Geist »weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht« (Johannesevangelium 3, 8). Der Ausdruck »das Göttliche« scheint mir also geeignet, das Ganze des Seins, die Unermesslichkeit der schöpferischen Energie und das Unbedingte der göttlichen Liebe zur Sprache zu bringen, auch die Ehrfurcht vor dem Unverfügbaren.

Ein anderes Verständnis von Gebet

Wenn ich nun mit diesem apersonalen Gottesverständnis das Beten bejahe, muss ich gleich dazu sagen, dass ich ein anderes Verständnis von Gebet damit verbinde. Beten ist für mich keine nach außen gerichtete Aktion, die etwas in der äußeren Wirklichkeit oder im Willen Gottes verändern will, sondern primär ein Geschehen in meinem Bewusstsein. Das sei am Beispiel des Dankgebetes erläutert. Sowohl ein personal verstandener Gott wie auch »das Ganze des Seins« brauchen nicht meinen Dank und nicht mein Loben. Aber mein Bewusstsein möchte der Erfahrung Ausdruck geben, dass ich in allem, was mir widerfährt, ein Empfangender bin, sei es die Atemluft, die Nahrung, ein glückliches Erlebnis oder eine bereichernde Begegnung. Auch alle Begabungen, Prägungen und Inspirationen habe ich empfangen. Vielleicht kann ich sogar für eine schwierige Erfahrung danken, wenn ich sie als eine Gelegenheit zur inneren Reifung verstehe. Ich kann auch – wenn dies nicht zur Routine erstarrt – für mein Dasein als solches danken. In diesem Sinne ist mir ein Dankgebet aus mystischer Spiritualität möglich, ja immer wieder ein Bedürfnis.

Dagegen sind mir die üblichen Bittgebete fremd geworden, sie scheinen mir zu sehr im magischen Denken verwurzelt, so als ob – womöglich durch »Beten ohne Unterlass« – der Wille Gottes beeinflusst werden könne. Etwas anders ist es mit Fürbitten. Auch da geht es vor allem um einen Prozess in meinem Bewusstsein. Indem ich morgens mental die Namen unserer Nachkommen nenne, verbinde ich mich im Geiste mit ihnen und ihrer jeweiligen Situation; und für die Menschen in meinem Bekanntenkreis, die gerade in besonderer Not sind, bitte ich um Stärkung. Dabei ist mir bewusst, dass dies keine Ersatzhandlung sein darf, sondern nur eine immer wieder nötige Erinnerung an deren aktive Unterstützung durch mich, sei es durch ein Telefonat, einen Brief oder einen Besuch. Ob ein solches Gebet auch eine energetische Fernwirkung haben kann – wie es manche Untersuchungen nahelegen –, möchte ich nicht ausschließen.

Eine weitere Form des Gebets ist mir auf dem Weg mystischer Spiritualität wichtig geworden: ein Gebet der Hingabe. Es ist in besonderer Weise ein Prozess für das Bewusstsein, sich die eigene Ohnmacht einzugestehen und sich zugleich des Vertrauens in die Kraft des Ganzen zu vergewissern. Die spirituelle Hingabe bedeutet immer wieder Abgabe eines Stücks Ego.

Zudem ist daran zu erinnern, dass in der christlich-mystischen Tradition die Kontemplation im Zentrum steht. Sie ist das Gebet des Schweigens, ein Gebet also jenseits aller Worte und im Verzicht auf die Vorstellung eines Bewirkens. Jörg Zink, neben Dorothee Sölle ein weiterer großer Zeuge christlich-mystischer Spiritualität in unserer Zeit, schrieb dazu: »Bin ich ›in Gott‹, so weiß ich mich von allen Seiten umgeben und umfangen. Ich bin an einem Ort unendlicher Ruhe und Geborgenheit. Ich verlasse mich selbst und finde mich in Gott. Ich wende mich im schweigenden Gebet von mir selbst weg in die Unendlichkeit Gottes« (Zink 1997: 374). Diese stille, wortfreie Bewusstheit ist das eigentliche und wichtigste Gebet der mystischen Spiritualität.

Persönliches Hoffen

So wie das Beten wird auch das Hoffen von manchen Vertretern mystischer Spiritualität und sowieso von Außenstehenden infrage gestellt. Wie und worauf könnte man denn hoffen, wenn doch nur das Hier und Jetzt real und wichtig sei? Das Hoffen scheint aber eine Grundbestimmung menschlicher Existenz zu sein (siehe dazu weiter unten zu Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung«). Nicht immer und in allen Kulturen war dies ein linear in ferne Zukunft gerichtetes Hoffen. In naturnahen und auch noch in den agrarischen Kulturen war das Denken zyklisch orientiert gemäß dem Werden und Vergehen und der Wiederkehr in der Natur. Und wenn die Existenzbedingungen gesichert waren, war deren Wiederholung im nächsten Jahr schon ein Segen. Wenn aber nicht, dann gab es das Hoffen, beispielsweise auf den rechtzeitigen Regen oder auf das Ende eines Dauerregens oder darauf, dass die Vorräte bis zur nächsten Ernte reichten.

In unserem Kulturraum, geprägt von der jüdisch-christlichen Religion und ihrem perspektivischen Zeitverständnis, gibt es das Hoffen schon lange, und zwar in doppelter Weise: als bange Frage, was denn jenseits des Todes zu erwarten sei; und als Frage, ob nicht die leiderfüllte Welt eine bessere werden könne. Zu der ersten Frage ist wenig zu sagen, da ja noch niemand wirklich von jenseits des Todes zurückkam, sodass er oder sie davon hätte berichten können. (Die zahlreichen, eindrucksvollen Nahtoderfahrungen sprechen vom inneren Erleben beim Sterben und von der Umkehr ins Leben, keineswegs aber vom Nach-dem-Tod.)

In vielen Religionen verbreitet ist die Erwartung, dass man nach dem Tod in einer neuen, hoffentlich »besseren« Inkarnation wiedergeboren werde, wobei das Tun im jetzigen Leben ein entscheidendes Kriterium für die Art der Reinkarnation sein werde. In der christlichen Tradition zentral verankert ist die Hoffnung, dass die Glaubenden nach dem Tod als dieselbe Person eine Auferstehung in einem »geistlichen Leib« erleben. (Ob man zunächst in einem Gericht vor Gott bestehen müsse und dort begnadigt werden könne oder ob man direkt »bei Gott sein« werde, ist in dieser Tradition nicht eindeutig.) Trotz aller Rücksicht auf diejenigen, denen solches Glauben hilft, zu leben und zu sterben, und denen ich diesen Glauben keineswegs ausreden will, muss ich gestehen, dass mir sowohl die Erwartung einer individuellen Wiedergeburt wie auch die einer persönlichen Auferstehung suspekt sind. Vielleicht sind sie Ausdruck eines tiefen Wissens um Wert und Würde eines individuellen Lebewesens, das nicht für immer verloren gehen dürfe. Aber ich habe den Verdacht, dass sie subtile Formen der Ego-Verhaftung sind. Das Ego kann die Vorstellung nicht ertragen, dass es eines Tages in keiner Weise mehr existieren sollte, und projiziert sich deshalb in jenseitige Fortsetzungen. Für mich hoffe ich, dass ich eines Tages mit der Vorstellung werde sterben können, dass meine Welle in den Ozean zurücksinkt und damit als individuelle Welle vergeht. Vergänglichkeit ist für mich nicht gleichbedeutend mit Vergeblichkeit.

Für die Erwartung eines Gerichts nach diesem Leben ist die Begründung häufig, dass doch wenigstens nach dem Tod Gerechtigkeit hergestellt werden müsse, indem die Bösen bestraft und die Guten belohnt werden. Auch diese Art der Hoffnung ist mir suspekt, weil sie allzu pädagogisch geprägt ist und oft als moralische Drohung missbraucht wurde. Obwohl diese Vorstellung auch im Neuen Testament weit verbreitet ist, halte ich sie für eine sehr menschliche Projektion. Die von Jesus verkündete Gnade und Vaterliebe Gottes entspricht nicht irgendeinem noch so gnädigen weltlichen Gericht. Gott, wie ihn Jesus neu verstand, ist kein Richter. (Die zahlreichen Drohworte in Jesu Mund gelten unter modernen Bibelwissenschaftlern als nicht echt jesuanisch, sondern als nachträgliche Eintragungen.) Als Urgrund des Seins, als alles durchdringende Liebesenergie umfängt das Göttliche alle und alles. Das ist Grund genug für jegliches Hoffen – auch auf eine innergeschichtliche Auferstehung unserer Welt.

Hoffen für die Welt

Der marxistische Philosoph Ernst Bloch widmet dem »Prinzip Hoffnung« sein Hauptwerk, eine umfangreiche, zweibändige Studie, in der alle Formen von Hoffen – von den Tagträumen und alltäglichen Wünschen bis zu den großen Utopien – in der gesamten Kulturgeschichte aufgespürt und betrachtet werden. Dabei scheint es ihm wichtiger zu sein, das Noch-nicht-Seiende zu bedenken als das Seiende. »Was nicht ist, kann noch werden!«, sagt der Volksmund und spricht in dieser schlichten Form jene Differenz aus, um die es bei allem Hoffen geht. Es ist die Differenz zwischen dem oft als ungenügend erlebten Seienden und dem als mögliche Verbesserung Gewünschten. Selbst in einer aussichtslosen Lage kann es noch die Hoffnung geben, wie es anders sein könnte oder müsste, auch wenn es aufgrund der gegebenen Situation eben nicht so ist und scheinbar nicht einmal werden kann. »Die Hoffnung stirbt zuletzt«, sagt dazu die Volksweisheit.

Was im 1. und im 4. Kapitel dieses Buches aus­geführt wurde, all die Krisen in unserer Welt und all das Leid auf der Erde, schreit ja geradezu nach einer Hoffnung, die wenigstens ahnen lässt, dass das Leben auch anders, weniger leidvoll, lebensfreundlicher sein könnte. Mystische Spiritualität muss solches Wünschen und Träumen und das Darauf-Hinarbeiten nicht diffamieren, aber sie muss davor warnen, dass das Bewusstsein des Einzelnen oder das einer ganzen Gesellschaft daran »haften« kann. Denn die Verfestigung gesellschaftlicher Zukunftsentwürfe zu politischen Programmen ist gefährlich. Da diese ja weitreichende Verbesserungen versprechen, tendieren sie dazu, diese Pläne auch mit Gewalt, ja sogar mit äußerster Härte durchzusetzen. So geschah es immer wieder in der menschlichen Geschichte, zuletzt unter den Faschisten in Europa, unter den Stalinisten in vielen Ländern und heute vonseiten des »Islamischen Staates«. Auch im Privaten drohen Katastrophen, wenn etwa ein Familienvater mit vermeintlichem Ausblick auf eine bessere Zukunft sich selbst und die ganze Familie ruiniert. »Anhaften« heißt in diesen Fällen, den viel zu hohen Preis für die Verwirklichung einer Hoffnung nicht zu erkennen und den geplanten Prozess, zum Beispiel die Revolution, rücksichtslos durchzuziehen. Mystisch-liebende Einfühlung in alle Betroffenen muss dazu führen, keine unmenschlichen Überforderungen aufzustellen. Den Zeitplan und damit das Tempo der Veränderungen zu mäßigen wäre ein erster Schritt des Lassens.

Das Hoffen darf jedenfalls nicht dazu führen, mehr im Morgen oder Übermorgen zu leben als im Hier und Jetzt. Das Handeln im Hier und Jetzt braucht keine Hoffnung im Sinne einer sicheren Erfolgserwartung, aber es braucht eine Richtung. Es darf nicht in blinden Aktionismus ausarten, der nicht bedenken will, wohin das führt, was gerade getan wird. Für eine Antwort auf die Frage nach der richtigen Richtung des Handelns ist der Aspekt der Heilung wichtig. Um das dafür Not-wendige zu erkennen, braucht es keine langfristige gesellschaftliche Perspektive; Einfühlung, Achtsamkeit, überhaupt Wachheit werden in aller Regel genügen. Dennoch sollten auch Mystiker und Mystikerinnen sich nicht dem Diskurs über die Zukunft, über das Wohin unserer Gesellschaft und der Welt entziehen. Wie genau soll denn Verbesserung aussehen und wie lässt sie sich angemessen realisieren? Das ist die wichtige Frage bei allen Reformen, aber erst recht bei weitergehenden Transformationsprozessen.

Fortschritt