Buchinfo

Potzblitz! Als Polly mit einem schrecklichen Schwindelgefühl aufwacht, ahnt sie es schon: Sie hat einen neuen Eckzahn bekommen! Dass auch dieser Zahn Zauberkräfte hat, stellt Polly schnell fest – denn aus Versehen verwandelt sie ihren Papa in einen Elefanten … Doch das ist nicht ihr einziges elefantöses Problem: Adlerauges große Liebe, die Elefantendame Roberta, droht nach Afrika verschifft zu werden! Pollys sprechender Fledermäuserich ist völlig verzweifelt. Klar, dass Polly sich gemeinsam mit ihrem Freund Paul sofort aufmacht, um Roberta zu retten! Zum Glück ist auf Tante Winnies Hausboot noch Platz. Und wer sucht schon in einer finnischen Sauna nach einem Dickhäuter?

Autorenvita

© Philipp Astner

Lucy Astner wurde 1982 in Hamburg geboren. Sie mag Schokolade essen, Trampolin springen und lachen, bis der Bauch wehtut. Und eben weil sie selbst so gerne lacht, hat sie ihr Hobby zum Beruf gemacht und schreibt Drehbücher für Kinofilme, mit denen sie viele andere Menschen zum Lachen bringt. Mit ihren beiden Töchtern und ihrem Mann lebt sie heute mitten in Hamburg-Eimsbüttel. Hier sind ihr nicht nur Kanalpiraten und Großstadtfeen begegnet, sondern auch ein kleines Mädchen mit potzblitzstarken Zauberzähnen: POLLY SCHLOTTERMOTZ. Und diesem Abenteuer konnte Lucy sich einfach nicht entziehen …

Für Philipp – weil du auch ohne Elefantenkräfte der weltallerbeste Papa bist!

»Potzblitz!« Erschrocken schwang Polly die Beine aus dem Bett und blickte zur alten Kuckucksuhr neben dem Fenster. Verschlafen! Sie hatte tatsächlich verschlafen – ausgerechnet heute, wo der Klassenausflug stattfand, auf den sie sich schon seit Wochen gefreut hatte! Normalerweise stand Polly jeden Morgen um Viertel nach sieben auf, jetzt aber zeigte die Holzuhr an der Wand bereits Viertel vor acht an! In fünfzehn Minuten würde der schnabellose Kuckuck aus seinem Häuschen humpeln und sein schräges Lied trällern – und schlimmer noch: In fünfzehn Minuten würde Pollys Klasse in den Zoo aufbrechen!

Polly stieß ein verärgertes Schnauben aus. Warum hatte ihr potzblitzblöder Wecker nicht geklingelt und sie wie gewohnt aus den Federn geschmissen? Ein Blick auf das Ziffernblatt gab ihr die Antwort. »Stehen geblieben! So ein Mist!« Wütend schleuderte Polly den Wecker an die Wand. Mit einem lauten Knacken zerbrach das Plastikgehäuse in hundert Einzelteile, die sich wie eine Handvoll Konfetti über den Fußboden verteilten. Doch noch während Polly in ihre Anziehsachen schlüpfte, setzten sich die Plastiksplitter wie von Geisterhand in Bewegung und fügten sich innerhalb weniger Sekunden zu ihrer ursprünglichen Form zusammen. Polly hatte sich mittlerweile an den Zauber gewöhnt, der auf ihrem Zimmer lag. Und er war ja in der Tat ganz praktisch – besonders seit sie diesen großen, spitzen Eckzahn hatte. Durch den Zahn hatte sie nämlich nicht nur erfahren, dass sie ein waschechtes Vampirmädchen war, sondern auch dass sie potzblitzstark wurde, sobald sie wütend war – und Polly konnte sehr, sehr wütend werden! Damit dabei nicht ständig etwas zu Bruch ging, hatte Tante Winnie ihr Zimmer kurzerhand verzaubert. Winifred war nämlich selbst ein Vampir, und seit Polly wusste, dass sie nicht einfach nur ein ganz normales Mädchen war, lebte sie bei ihrer wunderbar verrückten Großtante auf einem windschiefen Hausboot in Hamburg. Zunächst hatte Polly sich mit Winnies Hilfe nur auf die Vampirprüfung vor dem Siebenschläferrat vorbereitet, mittlerweile aber wohnte sie bei Winifred, weil sie hier die tollsten Abenteuer erlebte und eine Menge besonderer Freunde gefunden hatte. Aber warum um Himmels willen hatte Tante Winnie sie heute Morgen nicht geweckt? Sie wusste doch, dass Polly um acht Uhr in der Schule sein musste.

»Winniiiiiiie!« Aufgeregt stolperte Polly aus der Tür und hüpfte die Treppe hinab. Ihr Zauberzimmer befand sich ganz oben in der Turmspitze des Hausbootes und Polly musste aufpassen, dass sie vor lauter Eile nicht danebentrat und die krummen Holzstufen auf dem Hintern hinunterpurzelte – immerhin merkte sie in den Beinen bereits, dass sie dringend ihren Blutorangensaft brauchte. Igittigitt! Polly konnte Blutorangensaft nicht ausstehen, aber wenn Vampire nicht täglich ein großes Glas davon tranken, wurde ihnen schwindelig: erst in den Beinen und kurz danach im Kopf und auf der Zunge. Potzblitzblöd! Polly hatte den Saft schon oft vergessen und dann jedes Mal so geredet, als hätte sie ihre Zunge in einen Mixer gesteckt. Das konnte sie heute wirklich nicht gebrauchen! Und trotzdem wunderte sie sich: Normalerweise reichte es, wenn sie ihren Unlieblingssaft am Nachmittag trank. Warum setzte der Schwindel heute bereits am Morgen ein – noch dazu an einem Morgen, an dem alles schieflief?

»Tante Winnie!« Energisch stieß Polly die Tür zu Winifreds Schlafzimmer auf. »Es ist schon Viertel vor …« Irritiert hielt sie inne: Winnies Bett war leer! Merkwürdig … Normalerweise lümmelte sich ihre Großtante morgens immer noch mit einer Tasse Kleebeerentee in die Federn. Nun aber war von Winnie keine Spur – und merkwürdiger noch: Ihr Bett sah aus, als wäre es nicht benutzt worden. Hatte Winifred etwa gar nicht auf dem Hausboot geschlafen? Polly konnte sich das kaum vorstellen. Immerhin war ihre Großtante gestern Abend noch lange durch die Küche gewirbelt und hatte Polly von ihrem allerneuesten Reisetraum erzählt: einer Expedition in die Wüste der verbrannten Schuhsohlen.

»Sobald du in den Ferien zu deinen Eltern nach Hause fährst, breche ich auf«, hatte Winnie stolz verkündet und ihre feuerroten Locken geschüttelt. »Ich muss nur noch ein geeignetes Transportmittel finden! Eines, das meine temperamentvollen Fußsohlen unterwegs etwas runterkühlt!«

Polly hatte frech die Nase gekräuselt. »Um deine Füße mache ich mir ehrlich gesagt keine Sorgen – aber deinen Kopf solltest du zwischendurch abkühlen, sonst brennt er dir durch wie eine alte Glühbirne!«

Darauf hatten die beiden mit einer köstlich süßen Schokoladenmilch angestoßen und noch bis spät in den Abend hinein gelacht. Und nun sollte Tante Winnie verschwunden sein? Ohne ein Wort zu Polly? Langsam beschlich Polly ein ungutes Gefühl. Irgendetwas stimmte hier nicht … Erst das potzblitzblöde Verschlafen, dann der Schwindel auf der Treppe und nun war auch noch Winifred wie vom Erdboden verschluckt. Das alles hier gefiel ihr gar nicht, nein. Nicht mal ein klitzekleines bisschen …

Jetzt aber hatte Polly keine Zeit, dem Problem auf die Spur zu gehen. Ein flüchtiger Blick auf Winnies Wecker erinnerte sie daran, dass sie in zwölf Minuten an der Schule in der Tornquiststraße sein musste. Potzblitz! Das würde knapp werden. Für Zähneputzen blieb an diesem Morgen keine Zeit, der Blutorangensaft allerdings konnte nicht warten. Während Polly in die Küche eilte, spürte sie, wie es in ihrer Zunge kribbelte. In ein paar Minuten schon würde sie reden wie ein Schüttelreim auf zwei Beinen! Und auch ihre Hände hatte der gemeine Schwindel bereits befallen: Polly griff drei Mal daneben, bevor sie die silberne Kühlschrankklinke endlich zu fassen bekam. Dann aber riss sie die Tür kraftvoll auf – und stieß einen fürchterlichen Schrei aus.

»Tante Winnie?!«

Polly traute ihren Augen kaum: Mitten im Kühlschrank saß ihre Großtante und blinzelte sie verfroren an.

»P… P… Polly-Schatz«, stotterte Winnie, während ihre Zähne vor Kälte klapperten. »Ein G… Glück. Ich ha… hatte schon befürchtet, d… du frühstückst heut gar nicht mehr.«

Sprachlos sah Polly zu, wie kleine Dampfwölkchen zwischen den zitternden Lippen ihrer Großtante emporstiegen.

»Aber was machst du denn im Kühlschrank?!«

Mit knirschenden Gliedern stieg Winifred aus dem engen Kasten und schüttelte ihre Arme und Beine. »Brrrr. Ich wollte testen, o… ob sich das Ding eignet. D… du weißt schon, für meine Expedition in die W… Wüste.« Ungläubig runzelte Polly die Stirn. »Sag nicht, du hast die ganze Nacht da drin verbracht?«

Tante Winnie zuckte unschuldig mit den Schultern. »Ich h… hab vergessen, dass sich die T… Tür von innen nicht öffnen lässt. Verdammte K… Kiste!« Wütend holte sie nach dem Kühlschrank aus, verfehlte die Tür aber um einen halben Meter. »M… Mist! Und jetzt sind auch noch meine K… Kontaktlinsen eingefroren!«

Sprachlos sah Polly zu, wie Winifred sich die blinzelnden Augen rieb – und brach dann in schallendes Gelächter aus.

»Hey! L… Lachst du mich etwa aus?« Winnie musste sich zusammenreißen, um nicht selbst laut loszulachen. »Wirf lieber den Toaster an, damit meine Linsen wieder auftauen! Sonst bin ich bald so b… blind wie dein Freund Adlerauge!«

Polly grinste und schob hastig zwei Scheiben Brot für ihre Tante in den Röstkasten. »Adlerauge hat sich wenigstens eine Brille zugelegt. Vielleicht solltest du auch mal darüber nachdenken, Wante Tinnie.«

Wante Tinnie?! Erschrocken schlug Polly sich die Hand vor den Mund. Jetzt hatte der potzblitzbescheuerte Schwindel also ihre Zunge erreicht. Winifred blinzelte verständnislos an Polly vorbei.

»Brauchst du etwa schon deinen Blutorangensaft?«

»Ick schücke don …« Verdammt! Eigentlich hatte Polly »Ich fürchte schon« sagen wollen, doch anstatt ihre Worte jetzt noch lange zu sortieren, griff sie schnell in die hinterste Kühlschrankecke und zog eine Flasche Blutorangensaft hervor. Mit Müh und Not füllte sie ein großes Glas und leerte es in einem Zug. Bäh! Tante Winnie ließ ihren zugefrorenen Blick irritiert an Polly vorbeitanzen.

»Aber normalerweise kommt der Schwindel doch erst am Nachmittag. Dafür ist es viel zu früh! Zeig mir mal deine …«

»Zu früh?« Polly schnitt ihr das Wort ab und blickte eilig zur Küchenuhr. Sechs Minuten vor acht! »Zu früh ist grad gar nichts! Im Gegenteil! Wenn ich mich nicht beeile, komm ich zu spät – und zwar ganz gewaltig!«

Und noch bevor Winnie etwas erwidern konnte, verschwand Polly mit einem Knall zur Hausboottür hinaus. Im nächsten Moment ploppten die Brotscheiben aus dem Toaster. Blind tastete sich Winifred zum Tisch und legte sich eine warme Scheibe Weißbrot auf die Augenlider. Auch wenn sie nichts hatte sehen können, wusste sie, dass Polly nicht ohne Grund schon am Morgen ihren Saft brauchte. Aber war es wirklich das, was Winnie vermutete? Konnte es sein, dass Polly …?

Seufzend biss Winifred in das warme Toastbrot. Sie musste wohl oder übel auf die Antwort warten, bis Polly wieder nach Hause kam.

Zum Glück hatten Mama und Papa bei ihrem letzten Besuch Pollys Fahrrad mitgebracht. Zu Hause an der Ostsee hatte Mama Polly immer mit dem Auto zur Schule gebracht. Die Schule lag nämlich im Nachbarort Schönberg, und das war viel zu weit weg vom Bauernhof der Familie Schlottermotz, als dass Polly hätte radeln können. Hier in Hamburg aber lohnte sich die Fahrt mit dem Rad – besonders an Tagen wie diesen! Wenn Polly sich beeilte, konnte sie es vielleicht tatsächlich noch pünktlich in die Schule schaffen.

Seit Wochen schon freute sie sich auf den Klassenausflug in den Zoo – und zwar nicht nur, weil sie sich heute nicht mit endlosen Mathestunden herumschlagen musste, sondern vor allem wegen Roberta! Und natürlich wegen Adlerauge! Bei dem Gedanken an ihren kleinen Freund musste Polly grinsen. Adlerauge war kein normaler Freund, nein! Er war eine Fledermaus – oder vielmehr: ein Fledermäuserich! Pollys Vampirzahn hatte nämlich nicht nur dafür gesorgt, dass sie manchmal furchtbar stark wurde, sondern auch, dass sie sich mit dem kleinen Flatterich unterhalten konnte. Das hatte zwar für allerlei Aufregung bei der Siebenschläferprüfung gesorgt, mittlerweile aber hatten sich alle daran gewöhnt, dass der grau-blaue Wicht bei jeder Gelegenheit quiekend um Polly herumflatterte. Zumindest alle, die in ihr Vampirgeheimnis eingeweiht waren …

Pollys Freund Paul war einer dieser Eingeweihten und auch er konnte den Ausflug in den Zoo kaum abwarten. Immerhin hatte seine Mama Susanne für den kurzsichtigen Adlerauge eine Brille aus Kontaktlinsen gebastelt und dem Fledermäuserich dadurch endlich einen klaren Blick verschafft. So klar sogar, dass sich der Flatterich prompt zum ersten Mal verliebt hatte – in Roberta. Eine Elefantendame aus dem Zoo!

Polly schüttelte lächelnd den Kopf. Wo sich der kleine Kerl wohl gerade herumtrieb? Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass Adlerauge sie schon in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett schmeißen würde, schließlich konnte er es kaum erwarten, Polly endlich Roberta vorzustellen.

»Du wirst sie sicher wunderbar finden!«, hatte Adlerauge noch gestern Nachmittag verkündet. »Roberta ist meine ganz, ganz große Liebe!« Dann war er trotz seiner neuen Brille gegen die Zimmerdecke gekracht und in Pollys Hand abgestürzt. Polly hatte sich ein Lachen nicht verkneifen können.

»Mit der ganz großen Liebe hast du sicher recht. Immerhin ist Roberta ein Elefant und du bist nur ein faustgroßer Zwerg.« Adlerauge war vor Verlegenheit rot angelaufen und hatte sich mit einem übermütigen Looping aus Pollys Zimmer verabschiedet. Diese Roberta musste wirklich elefantastisch sein …

Während Polly nun mit einem Mordstempo durch die Straßen jagte, blickte sie flüchtig auf ihre Armbanduhr. Potzblitz! Drei Minuten vor acht! In der Ferne konnte Polly erkennen, wie die Ampel vorne an der Hauptstraße auf Grün sprang. Das war ihre Chance! Sie musste, musste, musste schnell genug sein! Angestrengt kniff sie die Augen zusammen und trat in die Pedale. Aber was war das? Plötzlich tauchte ein rotes Licht in ihrem Blickfeld auf, und es war nicht etwa die Ampel, nein! Dieses Licht hier bewegte sich – und zwar mit allergrößter Geschwindigkeit direkt auf Polly zu. Ein Glühwicht! Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Wie verrückt sollte dieser Tag denn noch werden?

In ihrer Vorbereitung auf die Siebenschläferprüfung hatte Polly alle wichtigen Dinge über Glühwichte gelernt. Die kleinen, fliegenden Lichter gehörten zu den Phantastanten, einer Gruppe von Lebewesen, die nur in der Welt der Vampire eine Rolle spielten, nicht aber in der Welt der »Zahnlosen«, wie Vampire die normalen Menschen liebevoll nannten. Glühwichte waren schnell und zuverlässig, vor allem aber waren sie sehr, sehr hilfreich, denn sie warnten Vampire vor Gefahren. Polly hätte den Glühwicht, der nun hektisch um ihren Helm herumschwirrte, allerdings fangen müssen, um zu erfahren, welche Gefahr drohte. Doch dafür hatte sie gerade überhaupt keine Zeit! Die Ampel war immer noch grün und Polly war höchstens zwanzig Meter davon entfernt. Wenn sie jetzt nicht schlappmachte, würde sie es noch bis zum Aufbruch der Klasse schaffen! Polly strampelte wie ein Weltmeister – und hurra: Die Ampel sprang erst auf Rot, als sie die andere Straßenseite sicher erreicht hatte.

»Polly Schlottermotz hat’s voll drauf!« Siegessicher schlug Polly nach dem Glühwicht und freute sich. Doch als sie ihr Fahrrad im nächsten Augenblick in die Tornquiststraße lenkte, trat plötzlich ein Mann mit einem Stapel Kartons und Briefen aus einem Hauseingang.

Polly hatte ihn in ihrem Freudentaumel übersehen und schaffte es nicht mehr, rechtzeitig zu bremsen.

Mit einem erschrockenen Schrei fuhr sie in den Mann hinein und beide landeten unsanft auf dem Boden. Aua!

Obwohl Polly einen Helm trug, drehte sich alles um sie herum …

»Hast du keine Augen im Kopf?!« Mühsam rappelte sich der Mann auf und funkelte Polly an. »Das hier ist kein Fahrradweg!«

Vor Pollys Augen flogen noch immer kleine Sterne hin und her, als sie den Kerl genauer betrachtete. Er trug eine gelb-schwarze Uniform, eine dunkelblaue Schirmmütze, die ihm durch den Zusammenprall tief in die Stirn gerutscht war, und sah ziemlich verärgert aus.

»Hast du deine Sprache verloren? Wie wäre es mit einer Entschuldigung?« Grimmig deutete er auf die Kartons und Briefe, die nun wild über den Gehweg flatterten. »Jetzt sieh dir dieses Chaos an!«

Postbote! Endlich lichtete sich der Nebel in Pollys Kopf und sie verstand: Der Herr hier war ein Postbote! Wenn auch kein besonders freundlicher. Sein eigenes Fahrrad stand nur ein paar Meter weiter die Straße hinab.

»Entschuldigung …« Schuldbewusst rückte Polly sich den Helm zurecht und stand auf. »Ich wollte das nicht, ehrlich. Ich hab es nur sehr, sehr eilig heute Morgen und …«

»Und ich nicht, oder was?!« Der Postbote schnitt ihr das Wort ab. Verärgert hob er eine Handvoll Briefe auf und warf Polly einen bösen Blick zu.

Polly musste schlucken. Die Augen dieses Mannes waren grau wie das Eiswasser der Ostsee, und als er seine Schirmmütze zurückschob, konnte sie oben auf seiner Stirn eine Narbe erkennen, die vor Wut zu glühen schien.

»Es tut mir wirklich leid. Wenn ich es irgendwie wiedergutmachen kann …« Polly drückte ihm einen zerbeulten Karton in die Hand – doch der schien den dünnen, drahtigen Mann plötzlich überhaupt nicht mehr zu interessieren, nein. Mit einem Mal hatte er nur noch Augen für eine einzige Sache.

»Heiliges Ofenrohr! Du hast da aber zwei ganz schön große Eckzähne …«

Zwei?! Hatte der grimmige Briefträger gerade zwei gesagt? Irritiert schielte Polly auf ihren Mund hinab, kam aber nicht weiter als bis zur Oberlippe. Ihr Vampirzahn war groß, keine Frage, so groß sogar, dass er auch jenen auffallen konnte, die nicht in ihr Geheimnis eingeweiht waren. Aber warum sprach dieser unfreundliche Kerl hier von zwei Zähnen? Unsicher tastete Polly ihren Kiefer ab – und riss dann überrascht die Augen auf. Tatsächlich! In ihrem Unterkiefer saß ein neuer Zahn! Nicht ganz so groß wie der im Oberkiefer, aber dennoch eindeutig ein neuer, spitzer Eckzahn. Wie war er nur da hingekommen? Und vor allem wann? Ganz langsam ging Polly ein Licht auf … Deshalb also hatte sie schon heute früh den Blutorangensaft benötigt! Deswegen war der Schwindel plötzlich viel größer und stärker. Ja, es bestand überhaupt kein Zweifel: Polly hatte über Nacht ihren zweiten Vampirzahn bekommen! Erschrocken presste sie die Lippen aufeinander. »Ehhh-u-hhee-eeg!«

»Was sagst du?« Der Postbote kniff finster die Augen zusammen.

Polly öffnete die Lippen einen klitzekleinen Spaltbreit. »Ich muss jetzt weg!« Sie wollte sich gerade auf ihr Fahrrad schwingen, da spürte sie eine eiskalte Hand an ihrem Arm.

»Du bleibst schön hier, junge Dame!« Der fiese Postbote hatte sie fest gepackt und grinste neugierig. »Zeig sie mal her, deine spitzen Beißerchen!« Mit einem kräftigen Griff presste er Pollys Wangen zusammen, um einen besseren Blick auf ihre Zähne werfen zu können.

Potzblitz! Noch nie hatte sich jemand derart für ihren Eckzahn interessiert. Und selbst wenn sie jetzt einen zweiten hatte, konnte sie sich seine Neugierde nicht erklären. Vor allem aber konnte sie es nicht ausstehen, dass dieser ruppige Kerl sie festhielt. So etwas tat man nicht! Nicht mit normalen Kindern – und erst recht nicht mit einem Vampirkind wie Polly! Blitzschnell fuhr Polly ihre Hand aus, packte den verdutzten Mann am Kragen und warf ihn mit einem gewaltigen Wutschrei einen Laternenpfahl hinauf! Keine zwei Sekunden später fuhr ein kleiner Blitz vom Himmel hinab und krachte mit Getöse in eine Mülltonne. Die Siebenschläfer! Die selbst ernannte Vampirpolizei verstand einfach keinen Spaß … Wann immer ihnen ein Helferchen flüsterte, dass ein Vampir seine Zauberkraft missbrauchte, schickten sie einen ihrer Angeberblitze als Warnung. Polly rollte mit den Augen und blickte hinauf in den Himmel. »Schon gut, ich hab’s verstanden! Aber was hätte ich denn tun sollen? Er hat mich gepackt und festgehalten – und so was macht man nicht mit Polly Schlottermotz!«

Dann setzte sie sich auf ihr Rad und fuhr, so schnell es ging, davon.

Irgendetwas stimmte mit diesem Postboten nicht. Er hatte nicht einmal geschrien, als Polly ihn in die Luft geworfen hatte. Stattdessen klammerte er sich oben an den Laternenpfahl und sah ihr fasziniert nach. Und als Polly sich ganz kurz zu ihm umdrehte, meinte sie sogar, ein Lächeln auf seinem Gesicht zu entdecken. Und potzblitz: Es war kein freundliches Lächeln …

»Ein Zahn?« Paul blinzelte Polly ungläubig an. »Du meinst … ein echter, neuer Vampirzahn?«

Im allerletzten Moment hatte Polly ihre Klasse mit dem Fahrrad eingeholt. Die Kinder und Frau Grübchen hatten das Schulgelände bereits verlassen und waren auf dem Weg zur Bushaltestelle, als Polly völlig abgehetzt dazustieß.

Nun saß sie noch immer atemlos neben ihrem Freund Paul im Bus und nickte ihm flüsternd zu: »Ja, mein zweiter Vampirzahn ist da. Und das Verrückteste ist: Ich hab es überhaupt nicht gemerkt!«

Paul runzelte die Stirn. »Nicht mal beim Zähneputzen?«

Unschuldig verzog Polly das Gesicht. »Na ja, ich … hatte heute Morgen keine Zeit zum Zähneputzen. Erst war der Wecker kaputt, dann hab ich Tante Winnie aus dem Kühlschrank befreit und …«

»Aus dem Kühlschrank?!« Paul musste lachen. »Oh Mann, bei euch wird es wirklich niemals langweilig!« Obwohl Polly an diesem Morgen überhaupt nicht zum Lachen zumute war, konnte auch sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. Pauls Begeisterung und Freude über alles, was mit dem Vampirsein zu tun hatte, war einfach ansteckend. Und dennoch wünschte Polly sich manchmal nichts sehnlicher als ein kleines bisschen Langeweile … Paul aber war schon wieder Feuer und Flamme.

»Und welche Zauberkraft hat dein neuer Zahn?«

Zauberkraft? Potzblitz! Darüber hatte Polly noch gar nicht nachgedacht. »Ich weiß es nicht. Vielleicht … hat er ja gar keine.«

»Keine Zauberkraft?!« Paul schien diese Antwort nicht zu gefallen.

»Bisher ist mir zumindest keine aufgefallen. Und bei Tante Winnie können nur zwei Zähne zaubern …«

»Die Zähne deiner Tante sind aber auch viel kleiner als deine!« Paul sah Polly entschlossen an. »Zeig mir mal den neuen!«

Unsicher öffnete Polly ihren Mund. Ihr kleiner rothaariger Freund kniff die Augen zusammen und betrachtete den neuen Eckzahn. »Hm. Er ist ziemlich spitz, aber nicht so groß wie der andere …«

»Siehst du!« Polly grinste zufrieden. »Wenn er kleiner ist, hat er wahrscheinlich wirklich keine Kraft! Mir wäre das jedenfalls ganz recht.« Tatsächlich fand Polly diese Vorstellung gar nicht so übel. Jede Zauberkraft brachte viel Aufregung mit sich – und wenn Polly ehrlich war, fand sie ihr Leben schon aufregend genug. Seit sie nicht mehr bei ihren Eltern an der Ostsee lebte, hatte sich alles komplett verändert. Pollys Abenteuer bestanden nicht mehr darin, jeden Nachmittag mit ihrer weltallerbesten Freundin Leni auf den Ponys Gulasch und Suppe zu reiten, oder ihre kleine Schwester Lotti dabei zu beobachten, wie sie wieder mal eine von Papas guten Hosen mit Schuhcreme verschönerte, nein. Stattdessen bewegte Polly sich nun tagein, tagaus in der fantastischen Welt der Vampire, war umgeben von Glühwichten, einer sprechenden Fledermaus – und natürlich Isabella, dem Mädchen, das in dem leeren Bilderrahmen an Pollys Zimmerwand lebte. Wenn man dann noch die aberwitzigen Abenteuer dazurechnete, die Tante Winnie in Pollys Leben brachte, war das eindeutig genug. Nein, Polly brauchte nicht noch eine weitere Zauberkraft.

Paul hingegen war ganz fasziniert von dieser Vorstellung. »Es wäre doch total cool, wenn du fliegen könntest!«

»Fliegen?« Polly dachte nach. »Was soll ich denn da oben in der Luft?«

»Ganz einfach! Du könntest den Leuten, die dir nicht gefallen, auf den Kopf machen! So wie die Taube, die neulich meine Mama vollgekackt hat.« Paul grinste frech und Polly musste lachen.

»Selbst wenn ich fliegen könnte: Ich glaube nicht, dass die Siebenschläfer mir so was erlauben würden. Du weißt doch: Die Schnarchnasen haben keinen Sinn für Humor.«