{4}Für Chloe und Alice

in Liebe für immer

{5}1

Ein heftiger Schneesturm empfing die Schülerinnen von Frau Grausteins Hexenakademie am ersten Schultag des Sommerhalbjahres.

Das Schuljahr war zweigeteilt. Das Winterhalbjahr fing im September an und dauerte bis zum Januar, das Sommersemester begann im März und endete im Juli. Fünf volle Monate pro Halbjahr! Kein Wunder, dass sich gerade die mittleren trostlos dahinzogen wie ein alter Kaugummi; und kein Silberstreif am Horizont.

Es war noch recht früh. Die Mädchen waren zwar an schlechtes Wetter in den ersten paar Wochen des Sommerhalbjahres gewöhnt, aber dieses Mal war es schlimmer denn je. Frau Graustein, die freundliche Direktorin der Schule, beobachtete vom Fenster ihres Arbeitszimmers aus das Eintreffen der Schülerinnen, die allein oder paarweise in den Hof geflogen kamen; krampfhaft kämpften sie auf den Besen um das Gleichgewicht, {6}während der eisige Wind heftig an den Mänteln und Sommerkleidern zerrte.

Mildred Hoppelt, inzwischen in der zweiten Klasse und angeblich die lausigste Hexe der gesamten Schule, flog torkelnd unter den tiefhängenden, neblig grauen Wolken heran. Der Besen, die Katze, der Handkoffer und das Sommerkleid, das den neuesten Schulvorschriften entsprach, alles war von einer dicken, weißen Schneekruste überzogen.

{7}Frau Harschmann (Mildreds schrecklich strenge Klassenlehrerin) hatte im letzten Schuljahr beschlossen, dass die alten, schwarz-grau karierten Kleider unschicklich modern seien, und die Direktorin davon überzeugt, diese durch solche in ordentlichem, schlichtem Schwarz zu ersetzen. Ergeben hatte Frau Graustein in Frau Harschmanns Vorhaben eingewilligt, wie sie es immer tat (sie war ein Mensch, der allen Schwierigkeiten aus dem Weg ging), obwohl ihr eigentlich die alten Sommerkleider sehr gut gefallen hatten. Aber das hatte die Direktorin lieber für sich behalten. Die Mädchen nutzten das Getue um die neuen Kleider zu fröhlichen Scherzen. Niemand, nicht einmal Frau Harschmann, konnte ernsthaft glauben, schwarz-grau karierte Kleider und graue Söckchen seien in irgendeiner Weise unschicklich.

Mildred konzentrierte sich angestrengt darauf, über die hohe Mauer in den Hof zu steuern. Bestimmt war sie inzwischen am Besen festgefroren. Rasch warf sie einen Blick hinter sich, um nachzusehen, ob ihr Tigerkätzchen noch da war. Das arme Tier hatte bereits bei idealem Flugwetter schreckliche Angst vor dem Fliegen. Kein Wunder, dass es sich während der gesamten Reise die Seele aus dem Leib geschrien hatte. Gott sei Dank, es hockte noch immer auf seinem Platz. Aber genau in dem Augenblick, als Mildred mit nur einem Fingerbreit Abstand über die obere Kante des hohen Tors in den Hof segelte, {8}beschloss das Kätzchen, sich unverzüglich in Sicherheit zu bringen, und sprang kurzerhand ab. Mildred verlor die Kontrolle über den Besen und stürzte in eine tiefe Schneeverwehung vor der Mauer zum Besenschuppen. Der Hof war recht windgeschützt, und so blieb Mildred einen Augenblick im Schnee sitzen, um wieder zu Atem zu kommen und die Ankunft ihrer Mitschülerinnen zu beobachten. Die meisten stellten sich deutlich geschickter an als sie selbst.

{9}»Du bist die reinste Plage, T-T-T-Tapsi«, erklärte Mildred zähneklappernd. »Wie soll denn mit einer Katze wie dir je etwas aus mir werden.«

Tapsi schüttelte sich, so dass noch mehr Schnee in Mildreds ohnehin bereits schneebedecktes Gesicht flog. Von ihrem Hut hingen sogar Eiszapfen herunter, und Tapsis Fell war gespickt mit kleinen Eisklümpchen. Die beiden sahen elend verfroren aus.

»Maude, bist du das?«, rief Mildred, als ein unförmiges Bündel aus Besen und Gepäck über die Mauer torkelte und ein paar Meter weiter sanft im Schnee aufsetzte.

»Hallo Mil!«, schallte unverkennbar die Stimme ihrer besten Freundin über den Hof. »Unglaubliches Wetter, nicht wahr? Und so was nennt sich Sommersemester!« Mildred rappelte sich auf, klopfte, so gut es ging, den Schnee aus den Kleidern und watete, Koffer und Besen hinter sich her schleifend, durch den Schnee zu Maude hinüber. Tapsi hatte derweil ihren gewohnten Platz eingenommen und lag wie ein Pelzkragen auf Mildreds Schultern.

»Meinst du, sie zünden zur Feier des Tages vielleicht ein Feuer im Kamin an?«, fragte Mildred hoffnungsvoll.

»Wohl kaum«, winkte Maude ab und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Du weißt doch, was sie immer behaupten: Frische Luft ist ja sooo gesund!«

{11}Der Hof füllte sich rasch mit Schülerinnen, die mit den Füßen stampften, um sich warm zu halten. Alle hofften darauf, bald hineinzudürfen, statt sich wie sonst erst im Hof sammeln und ordentlich aufstellen zu müssen. Einen malerischen Anblick boten sie da draußen in dem Hof, verstreute schwarze Punkte, wie Raben im strahlenden Weiß des frischen Schnees.

Das Haupttor zum Schulgebäude ging auf, und Esther Edel erschien auf der Schwelle, eine von Mildreds Mitschülerinnen und bekannt für ihr fürchterlich hochnäsiges, herrisches Gehabe, vor allem Mildred gegenüber. Sie hielt einen Zettel in der Hand, den sie am Tor befestigte.

{12}Die Nachricht auf dem Zettel lautete:

Niemand darf die Schule unaufgefordert betreten. Alle Schülerinnen haben sich im Hof in Reihen aufzustellen. Sobald es zum Unterricht läutet, ist der Reihe nach und ohne zu drängeln zur Garderobe zu gehen, wo das Gepäck abgestellt werden kann. Anschließend begeben sich die Schülerinnen paarweise in Reih und Glied zur Morgenversammlung in die Aula.

»Ich hab’s geahnt«, murrte Maude. »Aber verrat mir doch bitte, wie Esther es geschafft hat hineinzudürfen, während wir uns hier draußen die Nasen abfrieren und darauf warten müssen, dass uns die Klingel von unseren Leiden erlöst? Sie sieht verdammt trocken und richtig schön warm aus.«

»Schau doch, Maude«, sagte Mildred. »Sie winkt uns zu sich.«

»Mildred Hoppelt!«, schrie Esther, die keinen Schritt aus dem Schutz der Tür heraus machte. »Frau Graustein wünscht dich auf der Stelle in ihrem Arbeitszimmer zu sprechen.« Sie konnte sich ein höhnisches Grinsen nicht verkneifen. »Hat ja nicht gerade lange gedauert, dieses Mal. Seit wann bist du wieder hier? Fünf Minuten vielleicht, oder?«

Esther verzog das Gesicht zu einer hässlichen Grimasse, drehte sich rasch um und schloss die Tür hinter sich.

»Oh, Maude«, klagte Mildred bestürzt. »Bestimmt hat Frau {13}Graustein meine Bruchlandung beobachtet. Mein Gott, bei einem Schneesturm mit Windstärke neun könnte sie wirklich mal ein Auge zudrücken.«

»Reg dich nicht auf, Mil«, versuchte Maude ihre Freundin zu trösten. »Ich wünschte, ich dürfte zu ihr hinein. Bestimmt prasselt in ihrem Kamin ein schönes Feuer, so dass du dich wenigstens ein bisschen aufwärmen kannst. Außerdem geht es vielleicht gar nicht um deinen Sturz – es könnte doch ausnahmsweise einmal etwas Erfreuliches sein, was sie dir mitzuteilen hat.«

»Ich und etwas Erfreuliches!« Mildred kicherte. »Ich mache mich mal lieber auf den Weg. Mal sehen, was ich dieses Mal ausgefressen habe. Halt schon mal nach Edith Ausschau, während ich drin bin. Inzwischen müsste sie eigentlich auch angekommen sein.«

Edith war die Dritte in ihrem Bunde.

»Mach ich. Viel Glück auch!«

Mildred ergriff Handkoffer und Besen, stieg vorsichtig die schneeglatten Steinstufen hinauf und trat durch die schwere Eingangstür.

{14}2

Im Schulgebäude war es kaum wärmer als im verschneiten Hof. Die Fensterschlitze in dem burgähnlichen Bauwerk waren nicht verglast, und unter all den Simsen im Flur hatten sich kleine Schneeverwehungen angehäuft. Als Mildreds Blick auf Frau Grausteins Tür am Ende des Ganges fiel, verlangsamte sie unwillkürlich den Schritt und verfiel in ein zögerliches Schneckentempo. Sie wollte den Moment möglichst lang hinauszögern, über diese Schwelle treten und sich anhören zu müssen, was sie wieder mal angestellt hatte, kaum dass das Schuljahr zehn Minuten alt war.

Sie klopfte ganz sachte, in der Hoffnung, dass es vielleicht überhört wurde.

»Herein!«, ertönte Frau Grausteins muntere Stimme. Mildred öffnete die Tür. Da saß die Direktorin hinter ihrem Schreibtisch, ein prächtiges Holzfeuer loderte im Kamin an ihrer Seite.

»Ah, Mildred, meine Liebe. Komm, setz dich hier ans Feuer. {16}Du siehst ja ganz verfroren aus. Ich möchte gern ein wenig mit dir plaudern. Grässliches Wetter heute, nicht wahr?«

»Ja, Frau Graustein«, stimmte Mildred höflich zu und fühlte sich schon viel weniger bang, weil Frau Graustein offensichtlich sehr guter Dinge war. Vielleicht ging es ja doch um etwas ›Erfreuliches‹, wie Maude gesagt hatte.

Dankbar ließ sie sich auf einen Stuhl direkt neben dem Kamin nieder. Tapsi sprang von ihrer Schulter und drängte sich so nah ans Kamingitter, dass Mildred befürchtete, ihr Fell könnte Feuer fangen. »Tapsi«, rief Mildred und schnippte mit den Fingern. »Komm sofort hierher.«

Aber das Kätzchen war viel zu begierig, endlich die Eiseskälte aus den Knochen zu vertreiben, um auf Mildred zu hören. Auch die Eiszapfen an Mildreds Hut begannen zu tauen. Mit leisem Klirren fielen drei von ihnen gleichzeitig zu Boden.

»Also dann, Mildred«, begann Frau Graustein. Sie hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und musterte das Mädchen über die Fingerspitzen hinweg. »Ich wollte mit dir über dein Kätzchen sprechen. Es ist wirklich ein ganz besonders liebes Tierchen, nicht wahr?«

»O ja, Frau Graustein«, bestätigte Mildred eifrig. »Tapsi ist {17}furchtbar lieb. Nicht besonders gut in manchen Dingen, aber wirklich sehr, sehr lieb. Ich meine, ich schaffe es einfach nicht, ihr alles richtig beizubringen, und vor dem Fliegen hat sie noch immer eine Heidenangst, aber dafür ist sie ausgesprochen gutmütig und …«

»Ja, ja, mein Kind«, unterbrach Frau Graustein ihren Redefluss. »Ich weiß, dass du da ein ganz reizendes Kätzchen hast. Ich habe vorhin zufällig deine Ankunft beobachten können, und es ist mir nicht entgangen, dass du nur wegen Tapsi das Gleichgewicht verloren hast, als du über das Tor geflogen bist. Ich fürchte, sie ist eine ziemlich nutzlose Kreatur, trotz ihrer freundlichen Natur, und bei unseren Formationsflügen bietet sie einen wirklich blamablen Anblick – hängt unter dem Besen wie ein kranker Adler, während alle anderen Katzen hübsch aufrecht sitzen – sieht man einmal von den Katzen der Erstklässer ab. Deine Tapsi ist nie richtig über das Stadium des Katzenbabys hinausgekommen, findest du nicht auch, meine {18}Liebe? Außerdem hat sie für unsere Schule das falsche Fell, und neben den schwarzen Katzen wirkt sie einfach unordentlich.«

Entgeistert starrte Mildred Frau Graustein an. Nackte Angst legte sich wie eine enge Klammer um ihr Herz. Ein weiterer Eiszapfen brach von ihrem Hut und fiel ihr in den Schoß.

»Andererseits, mein liebes Kind«, fuhr Frau Graustein fort, »würde es mich interessieren, ob eine normale, vorschriftsmäßig schwarze Katze deinem Studium hier nicht vielleicht förderlich wäre. Eine der Drittklässerinnen, Fenella Feuerfee, ist im letzten Semester zur Akademie von Frau Fünfzack gewechselt und hat ihre hervorragend ausgebildete Katze zurücklassen müssen – sie haben Eulen bei Frau Fünfzack, deshalb hatte sie keine Verwendung mehr für die Katze. Du kannst sie haben, wenn du magst.«

Mildred war entsetzt. Sie bückte sich zu Tapsi hinunter und hob das Kätzchen rasch auf ihren Schoß. Ganz eng drückte sie es an ihr feuchtes, ganz und gar unmodisches Sommerkleid, wodurch sich nun auch die restlichen Eiszapfen lösten und leise klirrend zu Boden fielen.

»Aber was soll dann aus Tapsi werden, Frau Graustein?«, rief Mildred. »Ich meine, es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie so um mich besorgt sind, aber ich habe Tapsi nun seit fast zwei Jahren. Sie hängt an mir – gerade weil sie nicht besonders klug ist, und ich habe sie sehr lieb gewonnen.«

{19}Nachsichtig lächelte Frau Graustein Mildred zu. Das Kind bot aber auch einen ganz und gar erbarmungswürdigen Anblick, wie sie so dasaß, mitten in einer Pfütze geschmolzenen Schnees, Haare und Kleider tropfnass, und das arme, kleine Kätzchen schützend an ihr Herz gedrückt hielt.