Come here I think you‘re beautiful

My door is open wide

Some kind of stranger come inside“


(The Sisters Of Mercy)


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Michael Schweßinger

BEIM ESEL LINKS


RoadNovelle



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MICHAEL SCHWESSINGER: „Beim Esel links“

1. Auflage, Dezember 2016, Edition Subkultur Berlin

© 2016 Periplaneta – Verlag und Mediengruppe / Edition Subkultur

Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin,
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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat: Antonia Luba
Cover: Susanne Stoll (www.hinterzimmerdesign.de)
Satz, Layout & Projektleitung: Thomas Manegold (www.manegold.de)

print ISBN: 978-3-943412-28-4

epub ISBN: 978-3-943412-79-6

I

Ich kroch mit dem geliehenen VW Passat die Serpentinen nach Salaviciosa hoch. „Der neue Passat, eine Klasse besser!“, stand auf dem Aufkleber auf der Heckscheibe.

Das war er bestimmt auch mal; vor ungefähr 30 Jahren. Der zweite Gang ging seit der letzten Abzweigung nicht mehr rein, so dass ich nun die Wahl hatte, zwischen dem ersten im 5000er-Bereich oder dem dritten, untertourig, mit schleifender Kupplung.

„Pass auf den Rückwärtsgang auf“, hatte Astrid gemeint, „da musst du manchmal leicht mit dem Hammer nachhelfen. Liegt unter dem Sitz.“

Das mit dem zweiten hatte sie nicht erwähnt. Ich entschied mich für den untertourigen dritten Gang. Eine ruinierte Kupplung ist besser als ein Motorschaden.

Es schien, als hätten sich hier im Bergland der Sierra de Fates, entlang des Rio Almodovar, im Laufe der Jahre viele ähnliche Biografien zusammengefunden. Die ständige Präsenz der Winde, die durch die Straße von Gibraltar jagten und sich hier austobten, hielt nicht nur die große Hitze, sondern auch Pauschaltouristen fern. Getrennt durch die National 340, die die Küste mit ihren Pinienwäldern und Fischerdörfern vom Bergland trennte, traf man hier auf jede Menge Idealismus im Vorruhestand, der sich mit ökonomischer Notwendigkeit zu arrangieren versuchte. Wohnungsvermieter in bunten Pluderhosen, die man gerade bei einer buddhistischen Tiefenmeditation in ihren japanischen Steingärten störte und deren Preisvorstellungen schwer mit dem Mantra buddhistischer Nichtigkeit in Einklang zu bringen waren. Bachblütenfreaks mit eingebauten I-Ching-Kompassen, Experten für Hatha-Yoga, Spezialisten zur Rückerlangung des Seelengleichgewichts in nur zwei Urlaubswochen und sonnengebräunte Autohändler mit abgeschnittenen Jeans­hosen im Doppelripp nebst Trekking-Sandalen wie Lutz, vor dessen Haus ich den Passat nun bergabwärts zum Stehen brachte, so dass ich auf das Experiment mit dem Hammer und dem Rückwärtsgang bei der Rückfahrt verzichten konnte. Es war ein nettes Anwesen mit großem Garten. Das Business schien zu laufen.

Er begrüßte mich freundlich und führte mich in sein Büro, das von einem gerahmten Che-Guevarra-Plakat geziert wurde und eigentlich nur durch einen Haufen Papiere auf dem Tisch so etwas wie Büroatmosphäre vermittelte.

„Hasta la Victoria siempre! Nur noch beim Radfahren. 30 Kilometer am Morgen, das hält fit“, meinte er, als er sah, wie mein Blick beim Konterfei des Argentiniers verweilte.

„‚Zwei Drittel Heizöl, ein Drittel Benzin‘, sangen wir damals in West-Berlin, nun nur noch Tinto Verano mit zwei Drittel Sprite und ein Drittel Vino Tinto. Dazu ‘ne Scheibe Zitrone. Willst du auch einen? Das beste Getränk für den Sommer.“

Ich bejahte und Lutz verschwand in der angrenzenden Küche.

Astrid hatte mir Lutz empfohlen, weil er hin und wieder Autos vermittelte und ich war gerade auf der Suche nach einem fahrbaren Untersatz, da der öffentliche Nahverkehr sich hier im ländlichen Andalusien nur sporadisch blicken ließ.

Geregeltes Chaos auf dem Schreibtisch. Im Bücherregal einige zerlesene Taschenbuchausgaben von Hermann Hesse und Carlos Castaneda, Timothy Leary, daneben François Villon, eine französische Ausgabe von Frantz Fanons „Les Damnés de la Terre“ mit einem Vorwort von Jean Paul Sartre, gehalten von einer Ganesha-Statue. Über einige am Boden liegende Ausgaben des Kursbuches hatte sich bereits der Levante1-Staub gelegt. Ich griff nach Kursbuch zwanzig: „Walter Benjamin: Fragment über Methodenfragen einer marxistischen Literatur-Analyse.“

Lutz kam mit den Veranos zurück und stellte sie auf den Tisch. „Enzensberger war mit seiner Zeitschrift groß in Mode in den 70ern. Heute kann man das nicht mehr lesen, aber wegschmeißen will ich sie auch nicht. Kannst mitnehmen, wenn dich das interessiert.“

Ich verneinte, marxistische Literatur-Analyse war so ziemlich das Letzte, was ich im spanischen Sommer zu lesen gedachte. Ich legte die Zeitschrift zurück auf den Stapel, wünschte ihr alles Gute für die nächsten zwanzig Jahre Nichtbeachtung und nahm einen Schluck Tinto Verano. Lutz hatte recht. Gutes Getränk für den Sommer. Angenehm erfrischend.

Wir gingen in den Garten und machten es uns auf zwei Klappstühlen neben dem Pool bequem. Ein Labrador döste im Schatten und ließ sich durch uns nicht stören. Raymond Chandler hätte an diesem Setting seine Freude gehabt. Es fehlte nur noch die Frau mit Sonnenbrille. Der Blick von hier oben war beeindruckend. An der Küste bei Punta Paloma blähten sich die bunten Schirme der Kite-Surfer im Wind. Südöstlich davon, kurz hinter dem Leuchtturm von Tarifa, schälten sich die marokkanischen Rif Mountains aus dem Nebeldunst. Die Straße von Gibraltar, einer dieser Orte, die schon als Kind magisch in meinen Ohren klangen, wenn man mit den Fingern über den Globus reiste. Nun war eine Überfahrt nach Tánger so einfach wie eine Zugfahrt von Leipzig nach Halle. Ein Verlust oder Zugewinn, darüber war ich mir noch nicht klargeworden. Was man in die Realität zog, verblasste im Traum und Träumer war man nach wie vor.

35 Minuten benötigte man mit dem Speed-Boat von Tarifa nach Marokko. Vierzehn Kilometer nur trennten hier Europa von Afrika und irgendwo dort drüben warteten les Damnés de la Terre immer noch auf eine Passage bei Nacht, um ihre Fahrt gegen die Wellen und Frontex anzutreten, um ins gelobte Land zu gelangen. Die Welt war in dieser Frage seit Fanon nicht viel weiter gekommen. Ich musste an ein Graffiti denken, das ich einige Tage zuvor an der Uferpromenade von Tarifa entdeckt hatte. Ein Surfer mit Board unter dem Arm begegnet einem Afrikaner mit Rettungsring. „Yendo por una Buena ola – Huyendo por una mejor vida“, „Auf der Suche nach einer guten Welle – auf der Suche nach einem besseren Leben“, stand darunter. Passender hätte man dieses Zusammentreffen der Welten nicht ausdrücken können.

„Du suchst ein Auto, meinte Astrid“, unterbrach Lutz meine Gedanken. „Ich hätte einen 2002er Benz Vito 111 CDI für dich. Gerade reingekommen. Silber. 2300 Euro und er gehört dir, aber der Holger ist gerade knapp dran, also da geht vielleicht noch was beim Preis, allerdings viel Hubraum. Wird später noch teuer und natürlich vier Prozent Steuern fürs Ummelden auf ein spanisches Kennzeichen. Ist noch in Reutlingen gemeldet. Also 5000 wird das schon mit dem ganzen Papierkram. Spanisches ITV-Gutachten. Gestoria, etc. …“

Ich wiegelte ab. Nahm einen Schluck vom Tinto.

„Nee, nicht meine Preisklasse und irgendwie auch nicht meine Statusklasse“, meinte ich schmunzelnd.

Lutz lachte und drehte sich eine Drum ohne Filter und klopfte sie auf den Tisch.

„Tja, Status. Der ist wandelbar, wie alles im Leben. Hätte mir auch nicht träumen lassen, dass ich mal an der Costa de la Luz Mercedes vermittele. Allein das Wort Mercedes konnte man damals an der FU Berlin nur in einem gewissen aggressiven Tonfall aussprechen, ohne sich verdächtig zu machen. VW T1 war das Fahrzeug dieser Tage, obwohl die alten Bullis mittlerweile preislich über der Benz-Klasse rangieren. Für 35000 hat mir gestern einer einen unten in San Fernando angeboten. Schickes Ding, aber da muss man einige Autos verticken für, um sich sowas zu leisten. Aber ich halt meine Augen weiter offen. Rangero suchst du, richtig.“

„Naja, zum Pennen sollte schon Platz sein. Kombi ist da nicht das Schlechteste.“

„Verstehe, ich hör mich mal um! Versprechen kann ich nichts, aber manchmal ergibt sich was.“

Ich drehte mir auch eine Zigarette und blickte wieder in die Ferne.

„Hier oben ist es noch ruhig. Strand kannste von Anfang Juli bis September vergessen. Die stehen abends von Bolonia bis Tarifa. Selbst bei Heiko unten in der Pizzeria El Toro muss man nun reservieren. Das war irgendwann mal ein Geheimtipp, bevor ein Depp es als Geheimtipp in irgendeinen Reiseführer aufgenommen hat. Zur EM haben wir schon einen Dauertisch reserviert. Da ist für dich auch noch Platz. Also wenn du Lust hast. Ein wenig quatschen und Millionären zusehen, wie sie den Ball rumschieben.“

Ich verabschiedete mich irgendwann von Lutz, versicherte ihm, dass ich zur EM im El Toro vorbeischauen würde, und machte mich auf den Weg zurück Richtung Küste. Enge Schotterstraßen, hin und wieder Kühe und Ziegen am Straßenrand. Der würzige Duft von Pinien und Lavendel lag in der Luft. Dazwischen in der Siesta dösende Dörfer und Gehöfte zwischen Korkeichenwälder, eingebettet in vertrockneter Hügellandschaft. Nette Gegend, wenn man die Gedanken nicht zu weit schweifen ließ. Genau das hatte ich vor und schmunzelte bei diesem Gedanken. Wie oft hatte man das schon in Erwägung gezogen und doch hatten es die Gedanken immer wieder vorgezogen, sich ihre Wege zu suchen und es meisterhaft geschafft, der Romantik des Nichtdenkens zu entkommen.

II

Mein Glück als Bäcker ist, dass deutsche Auswanderer sich irgendwann nach deutschem Brot sehnen und dass dann irgendjemand ihre Sehnsucht erfüllt und anfängt, Brot zu backen. Meistens sind das nicht die schlechtesten Orte, um dort ein wenig zu verweilen. Man wandert gewöhnlich nicht in die Slums dieser Welt aus. Auch Astrid hatte irgendwann einmal beschlossen, Brot zu backen. Zunächst für einige Freunde und Freunde von Freunden. Vollkornbrot in Kastenform, wie man es aus der Zeit der Reformhäuser der 80er Jahre kannte, als für Gesundheit noch ein gewisser Masochismus erforderlich war und ökologisch noch nicht zum Life-Style-Kult unserer Tage erklärt wurde. Sie verkaufte die Brote unter der Hand und zu einer Zeit, als der spanische Tourismus bei Marbella endete und nur Insider etwas über die Costa de la Luz wussten. Als das Business wuchs, gründete sie eine Bäckerei. Ihre Rezepte entnahm sie ominösen, fundamentalistischen Zeitschriften wie „Schrot und Korn“ oder zerfledderten Büchern wie „Die Vollkornfibel“, die Weißmehl und Zucker gefährlicher für den Weltfrieden einschätzten als islamische Terroristen. Ihre Panaderia2 Die Vollkornbrezel lag in einer alten Mühle am Rande von Leticía und arbeitete nach dem Motto: „Wenn’s auch staubt im Mund, egal, hau doch noch ‘ne Schaufel Kleie rein.“ Für die Einrichtung der Backstube hätte jedes historische Museum Geld gezahlt. Der Ofen feierte locker seinen 50. Geburtstag, die Knetmaschine war nur durch mühevolle Handarbeit mittels eines riesigen Drehrades in Gang zu setzen, und als ich mich weiter umblickte, sah ich, dass sie hier mit Gartenhandschuhen die Bleche aus dem Ofen zogen. Was sie aus dem Ofen zogen, untertraf alle meine Erwartungen. Ich hatte als Bäcker schon einiges in einigen Ländern gesehen und ich hatte meine eigene Vorstellung, wie ein gutes Brot zu sein hatte, Pflastersteine, die man mühelos zum Hausbau verwenden konnte, waren jedoch noch nie mein Ding. Ideologisches Backen nannte ich sowas, denn es schien, dass ihre vielen deutschen Kunden, es gab unter ihnen eine auffällige Häufung an ehemaligen Soziologiestudenten, neben Adorno und Habermas auch noch durch eine Sozialisation im Geschmack verbunden waren. Während ich an einer trockenen Laugenbrezel kaute und das Für und Wider eines Spanienaufenthalts abwägte, verstand ich plötzlich das Paradoxe dieser Emigration. Menschen, die der Biederkeit und dem Stillstand Westdeutschlands entkommen wollten, waren in der Ferne selbst Vorreiter einer Konservation, Bewahrer des Vergangenen. Wie ein Betriebssystem, das keine Updates mehr erhielt, pflegte man hier die alternativen Geschmacksnuancen der 80er Jahre, während in Deutschland inzwischen Bio-Supermärkte aus dem Boden schossen, die die Widersprüche aufhoben und es einem gestatteten, mit einem Porsche Cayenne auf ökologische Einkaufstour zu gehen. Der Preis wurde zum Kriterium der sozialen Abgrenzung. Es ging dabei nicht mehr um eine Lebenseinstellung aus Überzeugung, sondern um soziales Prestige. Der modische Wechsel von Nussallergie zu Zöliakie war dabei ein akzeptiertes Status-Upgrade. Hier lebten hingegen die Ökos de la Guardia Vieja. Alte Schule, 100 Prozent Straight-Edge-Vollkorn ohne Kompromisse, frei nach dem Motto: „Was gut schmeckt, kann unmöglich gesund sein“, und vermutlich lagen sie damit der Wahrheit sogar näher als die Menschen, die glauben, Bio-Pizza oder glutenfrei habe grundsätzlich etwas mit Gesundheit zu tun. Es waren Menschen, die noch so etwas wie Charakter besaßen, völlig gleichgültig, ob man ihnen zustimmen mochte oder nicht. Man stieß wenigstens auf eine Meinung und man konnte sich auch sicher sein, man würde morgen wieder auf die gleiche Meinung bei eben dieser Person stoßen. Auch die Grundsätze der Meinungsbildung waren hier, wenn man so will, antik, sie gingen der Internetzeit, in der grundsätzlich jeder alles wusste und man auch zu allem eine Meinung haben musste, voraus. Das bedeutete nicht, dass die Meinungen dadurch automatisch besser waren, man sah nur, wenn man diese ruhende Welt betrachtete, um so deutlicher diese andere virtuelle Welt gespiegelt und sie erschien einem im höchsten Maße hysterisch.

Ich war kein Gesundheitsfanatiker und ließ die Laugenbrezel unauffällig in meiner Tasche verschwinden. Eines der zahlreichen Pferde am Wegesrand würde sich sicher darüber freuen. Ich ahnte, warum der Laden Erfolg hatte. Er hatte sich perfekt auf seine Kundschaft eingestellt, die nichts so sehr misstraute wie dem Perfekten und in dieser Genügsamkeit zufrieden waren. Ich war in den letzten Jahren zu wenigen zufriedenen Menschen begegnet. War ich mal sporadisch in Deutschland, so hatte ich das Gefühl, dass die meisten Menschen dort ohne eine Grundunzufriedenheit gar nicht mehr auskamen, auch banalste Dinge ständig politisierten, kein Gefühl mehr für die tieferen Schönheiten besaßen und sich in ihrem Hass eingerichtet hatten. Das Denken der Alternativlosigkeit hatte sich ausgebreitet wie ein hässlicher Virus, dabei war es manchmal nur ein kleiner Schritt in eine andere Richtung, der eine neue Perspektive einbrachte. Man musste dafür gewiss nicht um die Welt reisen, aber wenn man die Welt bereiste, dann spürte man, dass es nicht nur Schwarz und Weiß gab. Die feineren Schattierungen fächerten sich mit jeder Reise mehr auf und untergruben den eigenen Wahrheitsanspruch, machten einen sensibler und achtsamer. Den Menschen dieses Landstriches hier lag der Hass fern. Die Autos waren zwar verbeult, die meisten Menschen waren nicht mit materiellem Reichtum gesegnet, aber man spürte diese Zufriedenheit und innere Gelassenheit. Ich vermute, ich spürte diese Zufriedenheit auch deshalb so stark, weil ich die Jahre zuvor in Bukarest in einer Welt gelebt hatte, die dieses Wort nicht kannte. Die Stadt rannte mit ihren Minderwertigkeitskomplexen gegenüber Mitteleuropa ruhelos von einem Hype zum nächsten. Es war eine Welt, die sich völlig dem Materialismus verschrieben hatte. Eine Welt, in der die Vorstellung, etwas könnte auch ohne einen messbaren Wert wertvoll sein, kaum existierte. Alle theoretischen Möglichkeiten und praktischen Unmöglichkeiten der Globalisierung trafen in dieser Metropole aufeinander. Bukarest, das waren Kneipen mit schillernden Bierkarten, die 100 Biere aus aller Welt anpriesen, von denen dann dennoch aus vielerlei Gründen immer nur Heineken und sein lokaler Ableger Ciuc verfügbar waren. Keine Stadt zeigte mir so deutlich wie Bukarest, dass dieses gesamte glitzernde System des Everything goes scheitern musste und ich merkte gerade deshalb, wie ich Astrid und Lutz, Hannes und die anderen Menschen, die diese Seiten mit ihren Charakteren füllen, ihrer Schrullen wegen mochte. Ich mochte sie, weil sie sich in ihrer Art der Perfektion verweigerten und dadurch menschlich blieben. Sie waren in eine andere Zeit hineingeboren, eine Zeit, in der der Aufbruch in die Welt noch Reichtum und Zauber versprach, in der Menschen mit einem VW-Bus nach Indien fuhren, ohne sich groß Gedanken um etwaige Gefahr zu machen und das Fremde nicht mit Angst und Hass belegt wurde. Auch das hatten diese Migranten aus dem Norden irgendwie konserviert oder in sich am Leben gehalten. Das völlige Fehlen von Misstrauen gegenüber der Welt und im Besitz einer gewissen Naivität, die um die Härten wusste, ohne ihnen gänzlich das Feld zu überlassen.

Mein Handy klingelte. Lutz rief an.

„Wie es der Zufall will. Oben in Marbella verkauft eine Bekannte ihren VW Polo Kombi. 120000 Kilometer. Baujahr 1998. Benziner, gut in Schuss. 1000 glatt. Biste dabei?“

Ich überlegte kurz und sagte dann zu. Vollkornbrezel und verstaubte Ideale hin oder her. Es gab im Moment schlechtere Orte auf dieser Welt. Für eine Weile ließ es sich hier ganz gut leben.

„Okay, ich mach das klar und sag dir Bescheid, wo ihr euch treffen könntet. Gudrun verkauft ihre Marmeladen auf den Märkten entlang der Costa del Sol. Das wäre ‘ne Möglichkeit oder du fährst hoch nach Marbella. Is‘ ‘ne nette Strecke. Nimm die 340. Für die Autobahn zahlt man ein Vermögen. Ich schick dir ihre Nummer per Whatsapp.“

Ich rief Gudrun an und wir vereinbarten, uns am nächsten Tag beim Zoo in Estepona zu treffen. Ich sollte, wenn möglich, kleine Scheine mitbringen, dazu meinen Pass und meine NIE, die spanische Arbeitserlaubnis.

Beim Zoo in Estepona mit kleinen Scheinen um elf Uhr morgens. Das klang, als würde man etwas anderes in Empfang nehmen als einen 98er VW Polo. Marmeladenköchinnen kamen auf seltsame Einfälle.

Der Wagen jedoch war in Ordnung, der Lack hatte durch die spanische Hitze einiges abbekommen, aber das war mir egal. Ich fuhr eine Runde und hörte keine verdächtigen Geräusche. Damit war mein Wissen beim Autokauf auch schon völlig ausgeschöpft. Ich zahlte mit einer Rolle von Zehnern und Zwanzigern. Astrid hatte durch ihre Märkte jede Menge davon, und als ich sie fragte, ob sie mir mal schnell das Geld auslegen konnte, drückte sie mir ohne zu zögern das Bündel in die Hand.

„So viel Kleingeld. Ich wollte doch nur sagen, dass du nicht mit 500-Euro-Scheinen kommst. Die bekomme ich hier nämlich nicht getauscht“, meinte Gudrun, die sich mit ihrer Holzkugelkette und ihrem karmesinroten ponchoähnlichen Überhang als eine Marmeladenköchin erwies, die nahe an meinen Vorstellungen war.

500-Euro-Scheine! Hätte ich die so locker in der Portokasse, dann würde ich wohl kaum um einen 98er VW Polo buhlen.

Gudrun schenkte mir noch ein Glas ihrer selbstgemachten Mangomarmelade. Ich dankte ihr und dachte daran, die Karre mal ein wenig die Küste entlangzujagen. Laut ITV-Bericht hatte sie in den letzten Jahren gerade mal 2000 Kilometer pro Jahr zurückgelegt. Man merkte, dass Gudrun damit anscheinend nur ihre Mangos vom Feld in die Küche transportiert hatte. Dem Wagen fehlte es trotz seiner 1,4-Liter-Maschine eindeutig an Spritzigkeit.