Bernd Bobert

 

Das Schicksal der Elke Z.


Impressum

Covergestaltung: Gunter Pirntke

Digitalisierung: Gunter Pirntke

BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke

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Gunter Pirntke, Altenberger Str. 47

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Inhalt

Impressum

In Gedenken an Elke Zander.

Vorwort

Verschwiegene Vergangenheit.

Erstes Gotteserlebnis.

Ameisenkönigin.

Die Brüder.

Der Esel.

Herzhafter Bissen.

Komm, wir spielen Frisör.

Fehler fürs Leben.

Adieu, schönes Leben.

Tierquälerei.

Jugendzeit.

Belastungsprobe.

Ben.

Hallo, Brüderchen.

Endlich große Möpse.

Ach, Papa.

Mein Trainer, der Verführer.

Lauf doch selber für Olympia.

Klosterschule.

Erpressung.

Auf ganzer Linie versagt.

Das bringt’s.

Meine Ehe

Und das auf unserer Hochzeit.

Hochzeitsreise.

Eine Ehe mit einem Schläger.

Ist ja nicht der erste Ehebruch.

Auch das noch.

Mias Geburt.

Mia trinkt aus der Bong.

Bitte, nicht vor dem Kind.

Rumänienurlaub.

Autounfall.

Cocainschmuggel.

Kein Geld, was nun?

Zwischenspiel.

Wohnungslos.

Zurück zu Mama.

Ein neuer Mann.

Wenn Künstler zu Besuch sind.

Mias erster Besuch bei Malte.

Kriminelles Milieu

Juwelierraub.

Reise nach Ibiza.

Neuer Anfang?

Abi.

Faris und Mia.

Treffen mit Walter Moers.

Studienzeit.

Praktikum im Weißen Hirsch.

Eurinchen.

Flucht aus Dresden, auf nach Spanien.

Bestohlen und Belogen.

Mama, ich brauche dich nicht mehr.

Abstieg und Ende.

Willkommen zurück.

Der Pfarrer.

Satanisten.

Psychiatrie.

Erbe aus Amerika.

Auf Leben und Tod.

Vom Nasenbruch in die Geschlossene.

Messerstecherei am Neustädter Bahnhof.

Lebowski.

Rentnerreisebus.

Der Engel.

Zum Autor


In Gedenken an Elke Zander.

 

Ich hoffe, Dir, liebe Elke, mit diesem Buch ein würdiges Andenken geschenkt zu haben.

 

Vielen Dank für die gemeinsame Zeit. Ich freue mich auf ein Wiedersehen im Jenseits, wie auch immer das aussehen mag.

 

 

Image

 

http://www.weisse-magie.com/symbol4.GIF1960 in Castrop- Rauxel

 

 

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Vorwort

 

Lieber Leser,

im Dezember 2014 traf ich auf eine Frau, die in der Neustadt von Dresden vor einem Einkaufsmarkt saß und, wie sage ich es am besten, schnorrte oder bettelte? Ich finde, es klingt alles erniedrigend, drum war sie eine Frau, die auf Almosen hoffte. Ich ging an ihr vorüber, um Kleinigkeiten für mein Abendbrot einzukaufen. Als ich durch die Regalreihen des Supermarkts schlenderte, bemerkte ich, dass dieser Mensch mich aufwühlte. In Berlin, wo ich zuvor gelebt hatte, war es schon fast Normalität gewesen, ständig von Armut umgeben zu sein, und ich war einer von vielen, der in den S- oder U-Bahnen einfach nur mit dem Kopf schüttelte, wenn ihm von Obdachlosen Zeitschriften angeboten wurde. Doch Dresden ist anders. Kleiner, privater, unmittelbarer. Besonders die Neustadt wirkt manchmal wie eine Großfamilie, deren Mitglieder nicht drum herumkommen, Anteil an ihren Brüdern und Schwestern zu nehmen, so verbissen sie sich auch dagegen wehren. Ich schämte mich plötzlich, dass ich nicht zu mehr bereit war, als nach meinem Einkauf zu der Frau zu gehen und fünfzig Cent in ihren Becher zu werfen.

 

Einige Leser werden sich jetzt sicher fragen, welchen Grund es gibt, sich dafür zu schämen. Vielleicht den, dass die meisten von uns schwere Zeiten im Leben kennen und diese ohne einen Menschen an ihrer Seite, kaum unbeschadet bewältigt hätten. Das gibt natürlich viel Spielraum für Diskussionen, wer nun für wen verantwortlich ist, und sich schließlich zu kümmern hat.

 

Ich war die vielen Stimmen leid, die behaupten, dass jeder seines Glückes Schmied sei und die Wahl habe, was er mit seinem Leben anfängt. Wenn man den Verstand einmal außer Acht lässt, kommt man schnell zu dem Schluss, dass wir alle im selben Boot sitzen und mit der rauen See zu kämpfen haben. Somit hat doch jeder für jeden Verantwortung zu tragen. Bevor ich es realisierte, hatte ich den Entschluss schon getroffen: Ich wollte der Frau etwas geben, mich ihrer auf meine persönliche Weise, annehmen. Ich würde sie fragen, ob sie mir ihre Geschichte erzählt.

 

Ich setzte mich zu ihr. Wir unterhielten uns und schließlich berichtete ich ihr von meiner Idee. Sie willigte ein und schon am nächsten Tag begannen wir mit der Arbeit. Ich besuchte Elke im Obdachlosenwohnheim, in dem sie sich ein Zimmer mit einer anderen Frau teilte, richtete mein Aufnahmegerät ein und ließ sie erzählen. Von dem Moment an, verbrachten wir so gut wie jeden Tag zusammen. Natürlich war es alles andere als leicht, kontinuierlich zu arbeiten, weil ihr die Zusammenkünfte viel Kraft abverlangten und Verdrängtes an die Oberfläche brachten. Außerdem war Elke körperlich sehr angeschlagen und alkoholabhängig. Aus unserem Arbeitsverhältnis wurde schnell eine Freundschaft, weil wir trotz des Altersunterschiedes die Welt mit ähnlichen Augen betrachteten. Nach sieben Monaten intensiver Arbeit war es Hochsommer und ich verließ Dresden, um als Straßenmusiker in meiner Heimat an der Ostsee ein wenig Geld nebenher zu verdienen. Ich versprach Elke, im September zurückzukehren und unser Projekt fortzusetzen. Für die Zeit meiner Abwesenheit überließ ich ihr meine Wohnung. Kurz nach meiner Abreise ist sie darin verstorben. Die Ursache bleibt ungeklärt. Da unser Projekt durch Elkes Tod vorzeitig beendet wurde, habe ich bestmöglich versucht, die mir vorliegenden Erzählungen zu einem anschaulichen Gesamtwerk zu verarbeiten.

 


Verschwiegene Vergangenheit.

 

Diese Geschichte gehört zu meiner frühesten Kindheitserinnerung. Ich befand mich auf einem alten Sessel, in einem kleinen Zimmerchen, mit meinem Teddy. Links von mir war eine Tür, die offen stand. Dahinter sah ich einen Raum mit Betten, die von zwei großen Vorhängen verborgen wurden. Es kamen verschiedenste Männer in die Wohnung, die an mir vorüber gingen und hinter dem Sichtschutz verschwanden. Die Geräusche, die ich dann vernahm, waren mir äußerst unangenehm. Nach einer Weile trat meine Mutter im Schlafrock vor den Vorhang, verabschiedete ihren Gast, bis auch schon der nächste Mann die Wohnung betrat und von ihr begrüßt wurde. Manche von ihnen zwickten mir in die Wange, als stellten sie sich die Frage, was ein solch unschuldiges Kind hier verloren hätte. Zwischendurch kam eine Frau zu mir, fragte mich, ob es mir gut ginge, und reichte mir Kakao. Heute weiß ich, dass das ein Puff war und nichts anderes. Ich kann mir vorstellen, dass mein Vater meine Mutter vom Strich geholt hat. Als ich eine junge Frau war, reagierte sie immer extrem gereizt, wenn sie rote Unterwäsche an mir sah und bezeichnete mich als Flittchen. Das war wohl ihr eigenes schlechtes Gewissen und die Angst, dass mir ein ähnliches Schicksal widerfahren könnte. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie meine Mutter in dieses Milieu hineingeraten ist und werde es wohl auch nie herausfinden. Ich bin mir sicher, dass sie dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen wird. Sie hatte, solange ich sie kenne, höllische Angst davor, über die Vergangenheit zu reden. Meine Eltern haben ihre gesamte Geschichte verdrängt. Deshalb ist in meiner Familie auch alles so kaputt und schräg. Dabei könnte ich über das, was sie in ihrer Jugend verzapft haben, hinwegsehen. Mein Gott, es passiert viel Scheiße, wichtig ist doch nur, dazu zu stehen.

 


Erstes Gotteserlebnis.

 

In dem Alter von zwei Jahren gaben mich meine Eltern in eine Pflegefamilie, zu Onkel Willfried und Tante Selma, wie ich sie als Kind gern nannte. In Wirklichkeit bestand aber keine Verwandtschaft zwischen ihnen und meiner Familie. Sie müssen beide im Alter von Mitte sechzig gewesen sein und hatten sich in einem schönen Haus im Sauerland zur Ruhe gesetzt. Mein Onkel war Kriegsgefangener auf der Krim und meine Tante KZ-Häftling. Beide hatten sich in Deutschland kennengelernt und führten eine eher platonische Liebesbeziehung, denn sie war aufgrund der Mengeleversuche schwer misshandelt und konnte deshalb keine eigenen Kinder bekommen. Ich weiß nicht, warum meine Eltern mich unbedingt weggeben mussten, aber in der neuen Familie fühlte ich mich wohl, weil ich sehr liebevoll behandelt wurde. Zudem war die Umgebung traumhaft. Ich konnte in einem riesigen Garten spielen, hatte eine eigene Spielecke und Schaukel. Außerdem durfte ich immer die Eier aus dem Hühnerstall holen und besorgte mit einer Blechkanne die Milch vom Kuhbauern. Nun will ich dir aber erzählen, woher mein unumstößlicher Gerechtigkeitssinn und der Glaube an Gott kommen. Es war Weihnachten und ich viereinhalb Jahre alt. Meine Tante hatte mir zum ersten Mal einen Weihnachtskalender, der mit Schokolade gefüllt war, gekauft. Für mich war das etwas ganz neues und aufregendes. Ich wollte unbedingt wissen, was sich hinter den Türchen verbarg. Sie erklärte, dass ich jeden Tag ein Türchen öffnen dürfe, worüber ich mich natürlich freute, doch gleichzeitig fiel mir auf, dass das vierundzwanzigste besonders groß war. „Warum ist das Türchen größer als die anderen?“, fragte ich sie. „Weil an dem Tag das Christkind kommt. Aber öffne es nicht zu früh, denn das sieht der liebe Gott nicht gern und es könnte passieren, dass du ein kleines Teufelchen wirst“, warnte sie mit zwinkerndem Auge. Ein Teufelchen wollte ich gewiss nicht sein, also öffnete ich brav Tag für Tag ein Türchen nach dem anderen und freute mich über die Schokolade. Diese Disziplin bewahrte ich mir bis zum neunten des Monats, als mir die Zeit plötzlich zu lang erschien und die Neugier überhand gewann. Außerdem stand ich an diesem Morgen allein vor dem Kalender, denn meine Tante, die mich dabei immer schmunzelnd beobachtete, arbeitete im Garten. Ich hatte nicht vor, das Türchen zu öffnen, wollte lediglich in einen kleinen Spalt schauen, um zu erahnen, was mich erwartete. Ich prüfte, ob die Luft rein war und pulte an einer Ecke, bis ein kleines Loch entstanden war. Schon im nächsten Moment gab es einen Knall und ein Blitz schoss hervor. Ich hatte mich noch nie so erschrocken. Doch damit nicht genug, kaum hatte ich es verdaut, vernahm ich hinter mir eine tiefe Stimme, die ein lang gezogenes Oaaaaa hervorbrachte. Ich rannte völlig verängstigt aus der Küche, die Treppe hoch in mein Zimmer, bis mir der Gedanke in den Kopf schoss, nun ein Teufelchen zu sein. Also lief ich ins Badezimmer, schaute in den Spiegel und traute meinen Augen nicht mehr. Ich sah zwei rote Hubbel auf meiner Stirn. In meiner Verwirrung und großen Angst, den Fehler meines Lebens begangen zu haben, stürzte ich zu meiner Tante in den Garten: „Tante Selma, guck mal, guck mal, ich habe zwei rote Flecken, ich bin ein Teufelchen.“ „Was hast du denn gemacht?“, fragte sie verwundert. „Ich habe nur kurz in das Türchen vom Christkind gelugt, aber nur einen Spalt“, antworte ich schuldbewusst. „Aha! Aber nein, du bist kein Teufelchen, die Hörner sind schon wieder weg“, beruhigte sie mich. Ich machte auf der Stelle kehrt in Richtung Badezimmerspiegel, um zu überprüfen, ob meine Tante recht hatte. Ich war vielleicht erleichtert, als ich feststellte, dass alles wieder beim Alten war. Sicher hatte Gott Blitz und Geräusch erzeugt, um zu verdeutlichen, dass ich besser auf meine Tante gehört hätte. Das war mein erstes Gotteserlebnis.

 

 

Ameisenkönigin.

 

Wenn sich mein Onkel und meine Tante um das Bewirtschaften des Hofes kümmerten, auf dem sie Obst und Gemüse anbauten, saß ich entweder auf meiner Schaukel und schwang über die Kieselsteine hinweg, oder spielte mit meinen Puppen. Wenn ich mit mir nichts anzufangen wusste und mich die Langeweile plagte, versuchte ich Abhilfe zu schaffen, indem ich meinen Onkel ärgerte. War ich ihm ein zu nervenzerrüttender Quälgeist, ging ich zu der langen Reihe von Rosen, die meine Tante entlang des Kieselsteinweges, vom Haus bis zur Straße, gezüchtet hatte und versank in Träumereien. Die fanden ein jähes Ende, als ich eines Nachmittags zwischen den Blüten hindurchblickend, kleine Ameisenhäufchen entdeckte. In meiner rücksichtslosen Neugierde griff ich nach einem kleinen Stöckchen und piekste hinein. In heller Aufruhr versuchten die Ameisen, die kleinen weißen Eier, die sie auf dem Rücken trugen, in Sicherheit zu bringen. Das kurzweilige Schuldgefühl wich der Begeisterung über die Zielstrebigkeit meiner kleinen Freunde, ihren Bau wieder zu errichten. Wenn Normalität in das Ameisenleben einkehrte, sorgte ich wieder für Arbeit, indem ich die von Menschen gemachte Naturkatastrophe widerholte. Ich war richtig gemein. „Was machst du da mit deinem Stöckchen?“, hörte ich meine Tante hinter mir fragen. Ich hatte sofort ein schlechtes Gewissen und wandte mich zu ihr: „Ich schau nur nach den Ameisen.“ „Du machst doch die Häufchen kaputt.“ Sie wusste einfach immer sofort alles. „Ja, aber die bauen alles wieder auf“, blödelte ich. „Elke, lass die Ameisen in Ruhe, du zerstörst ihre Häuser. Stelle dir vor, unser Haus wird von einem Riesen zum Einsturz gebracht und wir müssen es mühselig wieder aufbauen.“ Ich blieb eine Weile trotzig vor dem Häufchen sitzen, suchte mir dann aber andere Spielkameraden. Doch immer, wenn ich mich langweilte, versuchte mich der Diabolo erneut zu verführen, um den Ameisen einen Besuch abzustatten. Diese Versuchungen bestehen bis heute. Mein Onkel trieb es aber auf die Spitze. Er suchte sich im angrenzenden Wald einen großen Ameisenhaufen, stocherte aber nicht darin herum, sondern legte sich gleich hinein. Ihn hatte jedoch nicht der Teufel geritten, sondern sein Rheuma, das er mittels des Urins der Ameisen lindern wollte. An diese Mutanten von Ameisen, traute ich mich aber nicht heran, die hätten mich noch in ihren Bau gezerrt und zu Ameisenköniginfutter verarbeitet.

 

Die Brüder.

 

Der Kindergarten, in den ich ging, war wirklich schön. Das Gebäude war das Vereinshaus des Dorfes, das sogar mit einer Kegelbahn ausgestattet war. Von dem riesigen Spielplatz mit mindestens drei Sandkästen, führte ein Hang hinunter in den Wald, in dem ein kleiner See mit einem Staudamm war. Uns Kindern wurde es natürlich von den Erzieherinnen verboten, dort hinunter zu gehen. Aus irgendeinem Grund war ich eines Tages alleine auf dem Spielplatz und ging gedankenverloren den Abhang hinunter. Er war voller feuchtem Laub, also muss es Herbst gewesen sein. Ich schaute auf den Boden, denn ich musste aufpassen, dass ich nicht ausrutsche. In dem Moment, als ich aufblickte, sah ich einen Jungen auf mich zukommen. Es war Karlo. Wenn möglich, ging ich ihm aus dem Weg, weil mich seine boshafte Art abstieß. Als er vor mir stand, befand er sich durch die Schräge des Abhangs bestimmt einen Meter über mir, öffnete sich den Gürtel, zog die Hose hinunter und zeigte mir seinen Penis. Er hielt ihn in seiner Hand und sagte: „Guck mal! Hast du so was schon gesehen?“ Das hatte ich nicht und ich wollte es auch nicht. Selbst wenn mein Onkel sich morgens anzog, musste ich unter die Bettdecke kriechen, weil ich nicht sehen durfte, wie er nackt aussah. Ich kann dir nicht mehr sagen, was ich Karlo gesagt habe, aber irgendwie hatte ich es geschafft, mich aus dieser Situation zu winden, und lief ganz schnell nach Hause. Ich erzählte niemanden davon, weil ich es abartig fand. Ich verdrängte es für die nächsten Wochen und Monate. Dieses Ereignis hat meinen Blick auf Männer und ihr Geschlechtsteil geprägt. Ich finde nichts Erotisches an der Präsentation von Genitalien.

Das zweite Erlebnis geschah ungefähr drei Jahre später mit seinem älteren Bruder Kai. Ich war mit meiner Freundin Asta unterwegs, die schräg gegenüber von mir wohnte. Eines frühen Abends machten wir einen Spaziergang auf einem kleinen Pfad im Wald in Richtung eines kleinen Holzschuppens. Er hatte einen schönen Anstrich, der zu den Farben des Waldes passte. Ich hatte schon öfter Musik aus dem Häuschen dringen hören und schloss daraus, dass es eine Art Treffpunkt für Jugendliche sein musste. Weil Asta und ich neugierig waren, gingen wir nicht daran vorbei, sondern schauten durch die Fenster. Dann dauerte es auch nicht lang, als auch schon die Tür aufging und ein großer Typ rauskam. Er packte uns am Schlafittchen und nahm uns mit hinein. In der Hütte waren ungefähr fünf Leute und unter ihnen Kai. Sie lachten uns alle aus und bestanden darauf, dass wir uns ausziehen. Als wir das nicht machen wollten, sagte Kai, dass wir dann nicht mehr rausgelassen werden. Also blieb uns nichts anderes übrig, als ein Kleidungsstück nach dem anderen abzulegen. Je mehr wir uns auszogen, umso mehr haben sie gelacht. Als wir dann ganz nackt waren, sagte einer zu uns: „Jetzt zieht euch wieder an und verschwindet!“ Ein paar Sachen haben wir schnell angezogen. Den Rest klemmten wir unter die Arme, um so schnell wie möglich abzuhauen. Vollständig kleideten wir uns dann im Wald wieder an. Weder Asta, noch ich, haben jemals darüber geredet. Ich erzählte meiner Tante nichts davon, weil ich Angst vor ihrer Reaktion hatte. Dieses Ereignis hat natürlich auch mein späteres Leben beeinflusst, was das Ausziehen von Klamotten betrifft.

 

 

Der Esel.

 

In der Regel bin ich mit meiner Tante einmal am Tag in den Wald gegangen und manchmal bis zu einer Weide, auf der ein Esel stand. Wir rissen das frische Gras und vereinzelte Kräuter, wie z.B. Sauerampfer, von der Wiese und reichten es ihm. Der Esel interessierte mich und ich kletterte auf den Zaun, um ihm ganz nahe zu kommen. Meine Tante warnte mich und sagte: „Elke, klettere nicht darüber, sonst könnte der Esel austreten.“ Ich wusste gar nicht, was austreten bedeutete. Eines Tages gingen wir zusammen mit Onkel Willfried dorthin. Ich rannte vor, pflückte in Windeseile das Gras vom Boden und stieg wieder auf den Zaun. An dem Tag blendete ich die Warnung meiner Tante aus und hüpfte einfach drüber. Am liebsten wäre ich auf den Rücken des Tieres gekrabbelt. Ich habe die Situation noch genau vor Augen. Beim Abstieg vom Zaun zerriss meine Strumpfhose und ich hörte von weitem meine Tante rufen: „Elke, ich habe dir gesagt, der Esel kann austreten!“ Ich blickte mich um und sah, dass sie keine Anstalten machte, mich davon abzuhalten, denn sie drehte sich zu meinem Onkel und redete mit ihm. Es wunderte mich, dass sie mich nicht aufforderte, zurückzukommen. Also fühlte ich mich frei, zu tun und zu lassen, was ich wollte. Zuerst ging ich an den Kopf des Esels und streckte meine Hand aus. Er wieherte. Ich ging zu seinem Bauch und streichelte ihn. Weil er sich das gefallen ließ, ging ich drum herum, als es plötzlich Plung machte und ich mich ein paar Meter weiter auf dem Boden wiederfand. Ich war völlig erschrocken und wollte anfangen zu plärren, als ich auch schon meine Tante mit einem nachsichtigen Blick hinterm Zaun stehen sah. Es gab keinen Grund mehr zu heulen, weil mir bewusst wurde, dass ich genau davor gewarnt worden bin. Mir ist auch nichts passiert. Ich schlug nur einen Purzelbaum und landete auf meinem Hintern. Danach bin ich für alle Zeit hinter dem Zaun geblieben und begnügte mich damit, ihm das Gras zu reichen. Meine Tante wusste, dass Reden allein, bei mir nichts bringt und ich diese Erfahrung machen musste, um daraus zu lernen. Dieses Prinzip wirkt bis heute in mir. Diesen hinterrücksen Tritt des Esels kann man sehr gut auf die Zwischenmenschlichkeit übertragen. Es ist ratsam wachsam zu sein und alles genauestens zu überprüfen, bevor dir jemand einen reinwürgt.

 

Herzhafter Bissen.

 

Bei der Einschulung wurde mir zum ersten Mal so richtig bewusst, dass alle Kinder Eltern hatten und einen Familiennamen trugen. Ich hingegen hieß mit Nachnamen anders, als meine Tante und mein Onkel. Es war ein verwirrendes Gefühl, nicht zu wissen, wo meine Eltern waren und warum sie mich alleine gelassen hatten. Nach der Feier gingen alle Kinder in ihre Klassen, um ihre Mitschüler und ihre Lehrer kennenzulernen. Wir wurden aufgefordert kurz über uns zu erzählen, wie wir heißen, ob wir uns auf die Schule freuen, was wir besonders gut können und so weiter. Als ich fertig war von mir zu erzählen, spürte ich einen dumpfen Schlag auf meinem Hinterkopf. Erschrocken drehte ich mich um und sah Karlo hinter mir sitzen, der mir seinen Schnidl gezeigt hatte. Ich hielt mir den Kopf und schaute ihn fragend an. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen, weil ich es einfach nicht verstand, warum er mich geschlagen hatte. Er meinte dann zu mir, dass ich aufhören solle so zu reden. Ich wusste nicht, was er damit meinte, bis er mich nachäffte und ich begriff, dass ihm mein kölscher Dialekt fremd war. Damit fing die Hänselei an. Mein Onkel brachte mich jeden Morgen zur Schule. Zurück bin ich jedoch immer mit meiner Freundin gegangen. Der Weg war ziemlich lang und führte geradewegs einen steilen Berg hinauf, in die Siedlung. Karlo und ein Kumpan von ihm, liefen dann hinter uns her und hänselten uns. Irgendwann wurde er auch körperlich, schubste und kniff mich. Bald hatte ich Angst, den

Heimweg anzutreten und erzählte meinem Onkel davon. Er sagte: „Elke, du darfst nicht jammern. Wenn er das wieder macht, dann wehrst du dich, beiße ihn oder ziehe ihn an den Haaren!“ Ein paar Tage darauf, wurden meine Freundin und ich wieder von ihm verfolgt, als er mich plötzlich in den Schwitzkasten nahm. Ich bekam kaum Luft, weil er mir mit seinem Unterarm die Nase und den Mund zudrückte. Dann erinnerte ich mich an die Worte meines Onkels. Ich biss so doll wie ich konnte in seinen Arm, als ich plötzlich ein großes Stück Fleisch im Mund hatte, das ich sofort ausspuckte. Ich fand es selber total eklig, denn ich hatte den widerwärtigen Geschmack von Blut im Mund. Er hielt sich seinen verwundeten Arm und lief schreiend davon. Wieder erzählte ich nichts davon zu Hause. Aber es sollte auch nicht lange dauern, bis es an unserer Tür klingelte und Karlos Mutter vor meiner Tante stand. Sie zeterte und machte Anschuldigungen. Meine Tante konnte nicht viel dazu sagen, weil ich mich nur meinem Onkel anvertraut hatte, der aber auch nicht lange auf sich warten ließ, als er das Gemoser hörte.

Er stellte sich neben meine Tante und wies die Frau im ruhigen, aber bestimmten Ton zurecht, dass ihr Sohn mich auf dem Heimweg des Öfteren geschubst und geschlagen hätte und er sich nicht wundern müsse, wenn ich mich irgendwann zur Wehr setze. Daraufhin verstummte die Frau, drehte sich wütend um und ging. Ich war heilfroh, dass er mich so in Schutz genommen hatte. Mein Onkel kam auf mich zu und schmunzelte: „Elke, ich habe gesagt, dass du ihn beißen, aber nicht zerfleischen sollst.“ Er streichelte mir über den Kopf und fügte hinzu: „Jedenfalls hast du dafür gesorgt, dass er dich in Ruhe lassen wird!“ So war es auch. Ab dem Zeitpunkt lief er entweder an mir und meiner Freundin vorbei, oder weit hinter uns. Wir sangen immer ein Lied aus der Werbung, um uns den schweren Aufstieg des Weges zu erleichtern: „Reine Frische, gesunde Haut, Nivea, Nivea, Niveacreme.“ Von der Schule selbst habe ich gar nicht viele Erinnerungen. Die meiste Zeit habe ich wohl nur gemalt. Aber an ein Zeugnis kann ich mich erinnern, auf dem stand: „Elke beteiligt sich kaum am Unterrichtsgeschehen.“ Das tat ich auch nicht, weil ich zu viel Angst hatte, etwas Falsches zu sagen.

 

Komm, wir spielen Frisör.

 

Tante Selma hatte Verwandte in Wuppertal, die uns ab und an mit ihren beiden Kindern besuchten. Jane war ein paar Jahre jünger als ich und Bernadett war mit ihren sechs Jahren ungefähr in meinem Alter. Wenn ich den Namen Bernadett höre, werde ich heute noch rasend. Sie hatte langes volles Haar und wurde dafür von den Erwachsenen bewundert. Ich konnte es irgendwann nicht mehr hören, dass sie andauernd sagten: „Bernadett, du hast Haare wie ein Engel. Bernadett, deine Haare sind wirklich ein Segen, du glaubst gar nicht, was andere geben würden, solch eine Haarpracht zu besitzen.“ Ich war so genervt. Eines Nachmittags, als die Erwachsenen Kaffee tranken, gingen Bernadett und ich nach oben. Plötzlich hatte ich den Einfall, dass wir Frisör spielen könnten, ohne bösen Hintergedanken. Bernadett war einverstanden. Ich sagte ihr, dass sie als erste dran ist und sich auf den Stuhl setzen soll. Das tat sie und äußerte sogar den Wunsch, gekämmt zu werden. Erst mit dieser Bitte, kam mir der Gedanke, dass ich die Schere hinzunehmen könnte, um der Bewunderung endlich ein Ende zu setzen. In dem Moment, als sie fragte, was ich da täte, schnitt ich beherzt die erste Hälfte ihrer Haare ab. Sie schrie sofort los, aber ich sagte, dass wir nun auch noch die andere Seite entfernen müssten, weil es sonst richtig doof aussähe und zack, lag die andere Hälfte auf dem Boden. Sie sprang vom Stuhl und rannte die Treppen zu den Erwachsenen hinunter. Da bekam ich es mit der Angst zu tun, weil mir bewusst wurde, dass mein Handeln nicht ohne Folgen bleiben würde. Ohne, dass ich gerufen wurde, ging ich langsam nach unten, setzte mich in den Sessel, der vor der offenen Tür zum Wohnzimmer stand und lauschte. Nach ein paar Minuten rief meine Tante nach mir. Sie muss gemerkt haben, dass ich im Flur wartete. „Was hat es mit Bernadetts Haaren auf sich?“, fragte sie mich ruhig. Ich kann von Natur aus schlecht lügen und meiner Tante konnte ich erst recht nichts vormachen. Ich sagte, dass wir Frisör gespielt hätten und ich ihre Haare geschnitten habe. „Und wer ist auf die Idee gekommen?“, hakte sie nach. „Das war ich“, sagte ich reumütig. Sie beendete die Fragerei, ohne mir eine Standpauke zu geben, und sagte, dass ich reinkommen und mich dazu setzen dürfe. Bernadetts Mutter war völlig am Ende, weil ihr Engelchen nun dreinblickte wie ein gewöhnliches Kind. Ich muss zugeben, dass ich mich wie eine Schneekönigin gefreut hatte. Es war keine boshafte Gehässigkeit, ich hatte vielmehr das Gefühl, für normale Umstände gesorgt zu haben, denn mit der überzogenen Bewunderung war es nun vorbei. Die kommenden Besuche verliefen dann wesentlich entspannter und der neue sportliche Haarschnitt stand ihr auch nicht schlecht. Wahrscheinlich habe ich sie auch vor einer Zwangsneurose bewahrt. Ein paar Monate länger und sie hätte wahrscheinlich nur noch vor ihrem Spiegel gesessen und sich die Haare gekämmt. Insofern habe ich sie erlöst. Unter den Besuchern für meine Tante waren schon schräge Vögel. Soweit ich weiß, gab es keine Angehörigen, die meinen Onkel besuchten. Aber er war auch erheblich älter als meine Tante. Ich denke, dass die meisten verstorben waren. Obwohl er über neunzig war, behielt er sich seine Aktivität bei. Der war fit wie ein Turnschuh und erledigte noch sämtliche Tätigkeiten auf dem Hof. Wenn die Tagesschau kam, setzte er sich immer in den Schaukelstuhl und zündete sich ein Pfeifchen an. Einmal in der Woche durfte ich mich dann zu ihm gesellen und Little Joe bei Bonanza anhimmeln. Wie aus einem fernen Universum, hörte ich meine Tante dann im vorwurfsvollen Ton sagen: „Nur Mord und Totschlag, immer diese Schießerei.“ Im Allgemeinen war der Fernseher aus, und kam nur bei wichtigen Reden von Adenauer oder Gefolge zum Einsatz. Von den Erinnerungen zehre ich noch heute, denn meine Tante verstand es ausgesprochen gut, mir eine Vorstellung von Recht und Unrecht näher zu bringen, ohne zu strafen oder zu schimpfen. Wenn es Probleme gab, erklärte sie mir die Dinge in ihrer lieben Art vernünftig. Auch die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und Onkel Willfried wurden mit neckischem Ärgern ausgetragen, ohne dass einer laut wurde, auf seinem Willen bestand oder auf sein Recht pochte. Streit und Anspannung habe ich erst bei meinen Eltern kennengelernt. Emotional konnte ich später auf diese Wurzeln zurückgreifen, ohne die ich den Horror ab dem achten Lebensjahr bei meinen Eltern nicht überlebt hätte. Ich hätte mich mit Heroin weggeblasen und du hättest dir jemand anderen für deine Geschichte aussuchen müssen. Meine Tante und mein Onkel sind mittlerweile gestorben, aber ich bedanke mich immer noch bei ihnen da oben, dass sie mir eine fantastische Familie waren, was meine Eltern nie hätten werden können.

 

Fehler fürs Leben.

 

Ich denke, dass es meine eigene Schuld war, dass mich meine Eltern wieder zu sich nahmen, denn ich beging einen entscheidenden Fehler. In großen Abständen machte ich, wie es meine Eltern immer nannten, bei ihnen Urlaub, wovon ich die meiste Zeit in der Kneipe verbrachte, die sie bewirtschafteten. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz, im stickigen Mief sitzen zu müssen und ihnen beim Arbeiten zuzuschauen. Wenn der Spuk nach einigen Tagen vorbei war, fuhren sie mich wieder in das kleine Dorf im Sauerland zurück. An dem Tag meiner Fehlentscheidung, saß ich auf dem Rücksitz, wie immer in Gedanken versunken, als meine Mutter mit besorgter Stimme zu meinem Vater sagte: „Mensch Hans, dem Kind ist es ganz egal, ob wir es wegbringen, vielleicht mag es uns gar nicht und will nur zu seiner Tante.“ Dieser Satz löste in mir eine Kurzschlussreaktion aus. Auch wenn ich diese Frau kaum kannte, wusste ich, dass es meine Mama war und ich ertrug es nicht, dass sie meinetwegen zu leiden schien. Ich entschied, ihr den Gefallen zu tun, die sich nach ihrer Mama sehnenden Tochter zu spielen und begann zu schreien, als wir auf Höhe des Fabrikgeländes waren, in dem mein Onkel arbeitete. Als wir ankamen, ließ meine Mutter nicht lange darauf warten, meiner Tante ihren Eindruck unter die Nase zu reiben: „Elke hat beim Anblick der Fabrik sofort geschrien. Dafür muss es doch einen Grund geben.“ Innerlich begann ich in Panik zu geraten, mir wurde heiß und kalt zugleich. Ich wollte alles, nur nicht weg von diesem Ort. Ich konnte es aber nicht aussprechen, weil ich mich in einer Art Solidaritätskonflikt befand. Von dem Moment an, hatte ich große Angst, meine Tante könnte wirklich denken, dass ich mich bei ihr unwohl fühle.

 

Adieu, schönes Leben.

 

Als sich eine Wende in meinem Leben ankündigte, ging es mir gerade richtig gut. Ich durfte meine Kindheit ausleben und fühlte mich aufgehoben bei den Menschen, die sich rührend um mich kümmerten. Eines Abends sagte meine Tante dann plötzlich zu mir: „Elke, deine Mama und dein Papa haben dir ein Nest gebaut.“ Da ich oft mit meiner Tante die Vögel beobachtete und sie mir viel von ihnen erzählte, dachte ich in meinem kindlichen Leichtsinn, dass ein Nest, etwas Weiches und Warmes wäre. Sie sagte, dass mich die beiden schon bald zu sich holen würden, weil sie glaubten, dass ich nicht mehr länger hier bleiben möchte. Ich wollte diesem Ort und vor allem, diesen Menschen nicht entrissen werden, nur war ich nicht fähig, meine Gefühle auszusprechen und ließ es ohne Gegenwehr geschehen. Ich wusste doch gar nicht, was diese Leute, die behaupteten meine Eltern zu sein, von mir wollten. Dann war es auch bald soweit, als ein Auto vor dem Haus parkte, ich aus dem Küchenfenster hinausblickte und meine Eltern aussteigen sah. Ich rannte sofort durch den Hinterausgang in den Garten, um bei der Begrüßung nicht dabei sein zu müssen. Irgendwann hörte ich die Terrassentür klappen und meine Tante rufen: „Elke! Komm mal rein, Papa und Mama sind da.“ Ich folgte der Bitte, betrat verhalten das Wohnzimmer, in dem alle saßen und begrüßte meine Eltern unsicher. Ich suchte mir einen freien Platz und ließ die Dinge geschehen. Als die Mittagszeit anbrach, aßen wir gemeinsam Hähnchen mit Kapernsoße, was meine Tante für uns gekocht hatte. Ich freute mich immer auf das Essen, denn sie war eine ausgezeichnete Köchin. Als ich aufstand, um zur Toilette zu gehen, sah ich auf der Treppe mein kleines kariertes Köfferchen. Später wurde mir bewusst, dass sich noch mehr Taschen auf den Stufen befanden, doch er allein war mir das Signal gewesen, dass ich wirklich von diesem Ort fort musste. Ich rannte zu meinen Kaninchen und zu den Hühnern, um mich von allen zu verabschieden. Als ich wieder ins Haus zurückkehrte, standen die Koffer schon nicht mehr auf der Treppe. Ich hörte, wie die Kofferraumklappe zufiel und wusste, dass es jetzt alles ganz schnell gehen würde. Widerwillig ging ich zum Auto hinaus, um das sich schon alle versammelt hatten. Mich plagte das schlechte Gewissen, weil ich Angst hatte, dass meine Tante wirklich dachte, dass ich von ihr weg wolle. Völlig überfordert mit der Situation und unfähig, meine wahren Gefühle zu zeigen, umarmte ich wie gelähmt meine Tante und meinen Onkel und setzte mich brav ins Auto. Ich hörte die Stimmen meiner Eltern nur verwaschen, als auch sie sich in die Sitze fallen ließen, die Türen schlossen und mein Vater den Motor startete. Als wir uns in Bewegung setzten, schaltete meine Mutter das Radio an und sang mit. Auch mein Vater summte vor sich hin. Mir war gar nicht nach singen. Ich schaute mich um und sah, wie Tante Selma und Onkel Willfried immer kleiner wurden, bis sie kaum noch zu sehen waren. Hinter der ersten Kurve war dann nicht einmal mehr das Haus zu sehen und ich legte mich auf die Rücksitzbank. Während der Fahrt spielten wir dann das Spiel, wer die Schilder am Straßenrand als erstes erkennt. Ich hatte schon immer gute Augen und gewann jedes Mal. Nur bei einem kam meine Mutter mir zuvor: „Dort steht Castrop- Rauxel“, kicherte sie. Das sollte die Abfahrt zu meiner neuen Heimat sein. Sie sagte: „Jetzt sind wir bald zu Hause und du bekommst ein schönes Zimmer.“ Ich schaute rechts aus dem Fenster und sah einen Fabrikturm, auf dem ein Tannenbaum aus Draht stand, der mäßig beleuchtet war. Ich wandte mich an meine Mutter und fragte, ob dieses Ding auf dem Dach, ein Tannenbaum sein soll. „Ja, das ist der Fabrikbaum“, antwortete sie. Für mich war dieser Baum ein Sinnbild meiner Trauer. Ich hatte meine blühende Heimat gegen karge Fremde eingetauscht. Ein paar Straßen weiter parkten wir dann auch schon an dem Mehrfamilienhaus. Als wir die spiralförmigen Treppen bis in die vierte Etage überwunden hatten und die Koffer im Wohnzimmer abstellten, traf es mich wie ein Schlag. Ich hatte Grauchen, meine Katze vergessen. Ich hatte mich von allen Tieren auf dem Hof verabschiedet, doch ausgerechnet sie, hatte ich in diesem Wahnsinn vergessen. Ich drehte mich zu meinem Papa und sagte, dass wir zurückfahren müssten, um meine Katze zu holen. Er schüttelte den Kopf und meinte, dass Grauchen nicht in der Wohnung leben könne. Mir war sofort klar, dass es kein Zufall war, dass ich ausgerechnet meine Katze bei der Verabschiedung nicht zu Gesicht bekam. Meine Eltern mussten es von Anfang an geplant haben. Ich fühlte mich verraten und beharrte darauf, meine Katze wiederzubekommen. Jammernd machte ich ihnen deutlich, dass ich ansonsten keinen Grund sehen würde, in der Wohnung zu bleiben. Mein Vater versuchte mich zu beruhigen, in dem er versicherte, dass wir Grauchen immer besuchen werden, und versprach mir, als Ersatz ein Meerschweinchen zu kaufen. Ich wusste damals nicht einmal, was für ein Tier das sein sollte. Ich war todtraurig, denn damit hatten sie mir das Liebste genommen. Kurz darauf gab es dann auch schon Abendbrot, obwohl mir der Appetit gründlich vergangen war und ich die ganze Zeit heulte. Das war der grauenvollste Tag in meinem bisherigen Leben. Als ich dann mein Zimmer sah, verflog auch der letzte Funke Hoffnung. Alles war knallrot lackiert, als hätten sie für Barbie ein Quartier hergerichtet.

 

Tierquälerei.

 

Um die Geschichte fortzuführen, muss ich eine meiner Schattenseiten offenlegen. Ich glaube, dass ich als Kind eine leichte Ader für Tierquälerei hatte. Vielleicht war es auch nur Neugierde, die für ein Kind von neun Jahren normal ist. In den ersten beiden Etagen des vierstöckigen Hauses, in dem ich mit meinen Eltern wohnte, lebte Familie Unterberg mit der siebenjährigen Fine, und Chris, der in meinem Alter war. Mit ihm war ich zu dem Zeitpunkt befreundet, weil wir nicht nur im gleichen Haus wohnten, sondern auch in dieselbe Klasse gingen. Es war Heiligabend und Chris bekam von seinen Eltern einen Biologie- und Chemiekasten geschenkt, weil es kaum etwas gab, das ihn brennender interessierte. Als die Tage der familiären Verpflichtungen beendet waren, lief ich zu ihm hinunter und staunte nicht schlecht, als ich den Inhalt seines Köfferchens mit den vielen Fläschchen begutachtete. Chris hatte unterdessen schon den Plan geschmiedet, einen Frosch zu fangen und an ihm zu experimentieren. Ich überlegte, wo wir am schnellsten einen herbekämen, als er auch schon eine Schatulle hervorzauberte. Er öffnete sie und der grüne Hüpfer sprang hinaus. Chris sagte mit betroffenem Gesicht: „Schade, ich hätte ihn auch noch für andere Zwecke gebrauchen können, aber ich muss an ihm das erste Experiment durchführen.“