Massey, Sujata Tödliche Manga

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Sonja Hauser

 

ISBN 978-3-492-98349-5

Mai 2017

© dieser Ausgabe: Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017

© 2000 Sujata Massey

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Floating Girl«, HarperCollins Publishers, New York 2000

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2003

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv:

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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1

 

»Tut’s zu weh? Soll ich aufhören?«

Ich schüttelte den Kopf, weil der Schmerz vorübergehend nachgelassen hatte. Miss Kumiko trug seufzend weiter warmes, klebriges Zeug auf die Innenseite meines Oberschenkels auf – das war ein trügerisch angenehmes Gefühl, denn ich wußte, daß mir noch ein etwa fünfzehn Zentimeter langer Streifen bevorstand. Die Kosmetikerin drückte ein Stück Baumwollstoff auf meinen Oberschenkel, und ich hielt den Atem an, als sie zu ziehen begann.

»Ah!« keuchte ich, während sie mindestens hundert Härchen mitsamt Wurzeln ausriß.

»Japanische Frauen schreien nicht vor Schmerz«, sagte Miss Kumiko mit fröhlicher Miene. »Nicht einmal, wenn sie ein Kind zur Welt bringen. Bei der Geburt meiner Nichte war meine Schwester ganz still. Sobald der Schmerz zu schlimm wurde, hat sie in ein Taschentuch gebissen. Soll ich Ihnen ein Taschentuch geben?«

»Nein, danke. Wir haben’s hier ja nicht mit einer Geburt zu tun, sondern mit einer Haarentfernung.« Meine amerikanische Hälfte war dafür verantwortlich, daß ich mich dieser Prozedur unterziehen mußte. Wäre ich zu hundert Prozent Japanerin gewesen, hätte ich das Haarlosigkeitsgen geerbt. Aber ich war eben eine hafu oder hanbunjin oder konketsujin oder welches Wort auch immer Miss Kumiko insgeheim für Menschen gemischter Herkunft verwendete. Meine eigene dumme Eitelkeit hatte mich vor dem Beginn der Badesaison im Juli ins Power Princess Spa geführt. Am Nachmittag erwartete mich noch ein letzter Geschäftstermin, dann konnte ich am nächsten Tag zum Strand fahren. Aber zuerst mußte ich diesen Schmerz ertragen.

»Madam, mir persönlich macht es ja nichts aus, aber die Handpflegerin in der nächsten Kabine hat Probleme«, flüsterte mir Miss Kumiko zu. »Überraschende Schreie von Kundinnen bringen sie möglicherweise aus dem Rhythmus.«

»Nun, vielleicht hat’s ja einen Grund, wenn Ihre Kundinnen schreien«, sagte ich.

»Ja, jetzt hätten wir’s!« erklärte Miss Kumiko und klopfte mir etliche Male kurz hintereinander auf den Unterleib. Die ganze Sache war eigenartiger gewesen, als ich erwartet hatte, aber schließlich handelte es sich ja auch um meine erste Haarentfernung in Tokio. Das Leben brachte eben immer neue Erfahrungen mit sich.

Ich schlüpfte in meinen Rock und humpelte hinaus zu dem schicken, gänzlich in Schwarz und Weiß gehaltenen Empfangsraum.

»Rei Shimura?« rief mir die blond gebleichte Empfangsdame von ihrem modernen Chromschreibtisch aus zu.

»Ja?« Ich kam immer noch nicht sonderlich schnell vorwärts, weil die letzten Wachsreste mir die Oberschenkel zusammenklebten.

»Wir haben zwei Sorten von Bikinizonen-Epilation, die eine groß, die andere klein«, sagte sie so deutlich, daß ein paar der anderen Kundinnen im Warteraum den Blick von ihrer Zeitschrift hoben. »Bei unserem Telefongespräch haben wir Ihnen den Preis für die kleine Größe angegeben, weil wir dachten, Sie seien Japanerin. Aber Miss Kumiko hat mir soeben mitgeteilt, daß sie für Sie die große gebraucht hat. Das heißt, daß es ein bißchen teurer wird: sechstausend Yen. Ist Ihnen das recht?«

Alle Anwesenden schienen sich ein wenig vorzubeugen, um meine verlegene Antwort besser zu verstehen.

»Ja«, sagte ich niedergeschlagen. Bei einem Wechselkurs von ungefähr hundert Yen für einen Dollar machte das etwa sechzig Dollar, mehr als doppelt so viel wie in den Vereinigten Staaten. Während ich das Geld hinlegte, dachte ich, der einzige Trost war, daß Miss Kumiko kein Trinkgeld erwarten würde. Ich befand mich in Japan, und dort honorierte man besonders gute Dienste nicht. Man ging davon aus, daß sie geleistet wurden.

 

Auf diesem schmalen Grat zwischen Schmerz und Vergnügen, Verwirrung und Begreifen wandle ich fast täglich. Ich bin vor vier Jahren von San Francisco nach Tokio ausgewandert, um mir dort meinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf japanischer Antiquitäten zu verdienen. Da niemand mich anstellen wollte, mußte ich mir selbst ein Geschäft aufbauen. Manchmal war’s ganz schön hart, aber jetzt kann ich mit Stolz sagen, daß ich immerhin nicht mehr unterhalb der Armutsgrenze leben muß. Miss Kumiko käme natürlich nicht auf die Idee, mich auf die Suche nach einer alten Kommode zu schicken, aber viele ältere, wohlhabende Japaner haben es getan. Sogar in einer Zeit der wirtschaftlichen Flaute ist es mir gelungen, ein paar ziemlich gute Geschäfte zu machen.

Vom Power Princess Spa setzte ich mich, immer noch humpelnd, in Richtung Gaijin Times in Bewegung, einer englischsprachigen Zeitschrift für in Tokio lebende Ausländer – mein neuester Glücksfall. Ihre Chefredakteurin, eine ehrgeizige junge Journalistin namens Whitney Talbot, hatte sich nach der Lektüre eines Artikels über Keramik, den ich für ein japanisches Antiquitätenmagazin geschrieben hatte, an mich gewandt und mich gebeten, weitere solche Artikel zu verfassen, ruhig, wie sie es ausdrückte, »ein bißchen frech«. Ich hatte Bedenken, doch als sie mir die Bezahlung für meinen monatlichen Beitrag nannte, mußte ich es einfach ausprobieren. In meinem ersten Artikel gab ich Ratschläge fürs Feilschen auf den Wochenendflohmärkten vor den Tokioter Shinto-Schreinen. Eigentlich hatte ich darin Anregungen für Interessierte geben wollen, doch schon bald rissen die Anrufe von unsicheren Ausländern nicht mehr ab, die mir Geld boten, wenn ich für sie handelte. Die Sache hatte sich geschäftlich als voller Erfolg erwiesen.

Ich schob meinen kleinen Anflug von Stolz beiseite, als ich das schmale Gebäude betrat, in dem die Sanno Advertising Agency und die Gaijin Times untergebracht waren, und fuhr mit dem Aufzug hinauf in den zweiten Stock, wo alle Wände mattbeige gestrichen waren.

Pulsierende Musik aus Lautsprechern zu beiden Seiten der Tür von Gaijin Times war das erste Anzeichen dafür, daß die Zeitschrift versuchte, sich aus ihrem beigefarbenen Umfeld zu lösen. Im Innern befanden sich schokoladenbraune Wände und Tische sowie ein grauer Klumpen auf dem schokoladenbraun-erdbeerrot gemusterten Teppichboden.

Ich ging näher an den Klumpen heran. Alec Tampole, ein Australier, verantwortlich für die umfangreichen Nachtclubberichte des Magazins, lag ausgestreckt auf dem Boden, die Arme in Form eines »A« vom Körper abgespreizt, die Knie zur Brust hochgezogen.

»Was ist los?« fragte ich besorgt und eilte zu ihm.

»Ich mache nur meine Pilates-Übungen. Hab’ ganz vergessen, daß du heute kommen wolltest, Rye.« Dann schob er die Beine in einer Bewegung über den Kopf, die mich an den Pflug im Yoga erinnerte.

»Meinen Namen spricht man wie das englische ray. Wie Sugar Ray«, sagte ich, bemüht, mit Hilfe der Popmusik eine gemeinsame Kommunikationsebene zu finden.

»Komm näher, die Musik ist so laut.« Alec senkte, vor Anstrengung ächzend, langsam die Beine.

Ich stellte mich so nahe wie möglich neben sein Ohr und brüllte die korrekte Aussprache meines Namens hinein.

Er lachte. »Gut, Rye. Ist irgendwas passiert auf dem Weg hierher?«

»Nein, wieso? Ist draußen irgendwas los?«

»Nein, das meine ich nicht. Was ist denn das für ein Zeug auf deiner Unterhose?«

»Du Mistkerl!« Erst jetzt, natürlich zu spät, merkte ich, daß der Musikfreak der Gaijin Times nur darauf ausgewesen war, bequem unter meinen Rock schauen zu können. Ich machte einen Satz rückwärts.

»Immer mit der Ruhe. Heißes Wachs für ’ne heiße Nummer, was?« Als er seine Hüfte noch einmal über seinen Kopf schwang, versetzte ich seinem ausladenden, khakibekleideten Hinterteil einen Tritt. Sein Schmerzensschrei klang wie Musik in meinen Ohren nach, als ich den Empfangsbereich verließ und mich durch das Gewirr kleiner Arbeitsplätze auf den Weg zu meinem nächsten Termin machte.

2

 

»Wo ist Whitney?« fragte ich Rika Fuchida, die Praktikantin der Zeitschrift, die barfuß auf Alecs Schreibtisch stand und die Ecke eines Cibo-Matto-Posters anklebte, die sich gelöst hatte. Seltsam, daß Alec nicht hier im Raum war, um Rika zu begaffen. Schließlich war ihr Rock kürzer als meiner.

»Hallo Rei-san!« Rika war Japanerin, also hatte sie keine Probleme, meinen Namen auszusprechen. »Haben Sie denn nicht gehört, daß Whitney-san nicht mehr hier ist?«

»Nein. Arbeitet sie jetzt zu Hause?« Ich warf einen Blick auf meine Uhr. In zwei Stunden war mein nächster Termin, und ich hatte mit der Chefredakteurin der Gaijin Times über das Thema meines nächsten Artikels reden wollen. Darin sollte es um Ratschläge gehen, wie man eine tansu-Kommode für weniger als tausend Dollar erwarb und restaurierte.

Rika schüttelte den Kopf so heftig, daß ihre schicken kurzen Zöpfe hüpften. »Whitney hat gekündigt.«

»Nein!« rief ich entsetzt aus.

Nun streckte Alec den Kopf zur Tür herein und beteiligte sich an unserem Gespräch. »Sie hat jetzt eine Stelle beim Asian Wall Street Journal. Ist die Karriereleiter raufgefallen, jawohl. Ist gut für uns alle, daß sie die Fliege gemacht hat. Unser Magazin muß endlich ’nen besseren Draht zur japanischen Kultur kriegen. Whitney beherrscht die Sprache, aber sie hat nicht viel Ahnung davon, was im heutigen Japan los ist.«

»Wenn das Journal sie angeheuert hat, kann sie nicht so schlecht sein«, sagte ich. Mit ihrem Yale-Studium und ihrer journalistischen Erfahrung war Whitney mir für die Gaijin Times fast schon überqualifiziert vorgekommen.

»Mr. Sanno, der Inhaber des Magazins, nimmt an der heutigen Redaktionssitzung teil. Er wird den neuen Chefredakteur bestimmen.« Alec schien vor Aufregung fast zu platzen. »Aber komm bloß nicht auf die Idee, dich bei der Sitzung zu produzieren. Ich hab’ deinen Lebenslauf gelesen. Die einzige journalistische Erfahrung, die du – abgesehen von deinen Artikeln für die Gaijin Times – hast, ist deine Arbeit für den Johns Hopkins University News-Letter.«

»Der Chefredakteurposten interessiert mich nicht«, erklärte ich kühl. Seine Erwähnung des Magazininhabers hatte mich nervös gemacht. Würde Mr. Sanno mich überhaupt als Kolumnistin behalten wollen? Ich war sehr dankbar für die kostenlose Werbung, die die Kolumne in der Gaijin Times für mein Geschäft bedeutete. Meine Einkünfte waren seit dem Erscheinen meiner ersten Artikel um zwanzig Prozent gestiegen.

»Die Sitzung geht gleich los«, sagte Rika. »Darf ich bei der Ausgestaltung Ihres Büros eine Pause machen, Alec-san, um den Kaffee zu servieren?«

»Ich helfe Ihnen«, erbot ich mich, da ich keine Minute länger neben Alec stehen wollte. Erst als ich zusammen mit Rika kleine Eiskaffeegläser mit Untersetzern auf dem Konferenztisch verteilte, merkte ich, wie dumm ich gewesen war. Ich verhielt mich wie eine eifrige Büroangestellte. Auf die Art würde ich mich dem Inhaber des Magazins nicht als Kolumnistin empfehlen.

Ich fragte mich, was in Mr. Sannos Kopf vorging, als er am oberen Ende des ramponierten Stahltisches Platz nahm. Die Belegschaft bestand aus sechs Vollzeitangestellten, einer bunten Mischung junger Leute, die das ganze Spektrum der Einwanderung im Japan des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts aufs trefflichste illustrierte. Da war Joey Hirota, der halb taiwanesische, halb japanische Restaurantkritiker; Norton Jones, Absolvent der Columbia University und nun für das Ressort Innenpolitik zuständig; Toshi Ueda, der kürzlich seinen Abschluß an der Waseda University gemacht hatte und jetzt der Fotoredakteur war; meine Freundin Karen Anderson, ein früheres Model, das Gewicht zugelegt hatte und jetzt über Modetrends schrieb; der widerliche Alec, Experte für Musik und Unterhaltung sowie Rika Fuchida, Alecs Praktikantin. Sie trugen echte alte Polyester-Sachen aus den Siebzigern und gemusterte Klamotten im Retrolook, Strickpullover und Jersey. Ohrringe schwangen in Mehrfachlöchern, und schwere Ringe und Armreifen klapperten gegen den Tisch, wenn jemand die Hand nach dem Kaffee ausstreckte. Tabakgeruch hing in der Luft, und vor jedem stand ein Aschenbecher, auch wenn noch niemand rauchte, vielleicht weil der Inhaber des Magazins anwesend war.

Mr. Sanno war so um die Vierzig, doch statt eines grauen oder marineblauen Anzugs, den man in seinem Alter erwartet hätte, trug er einen auffälligen grünen mit breitem Revers. Er blätterte einen dicken Aktenordner voller Tabellen durch. Zahlen, dachte ich und spürte, wie meine Anspannung wuchs. Vermutlich würde er sich gleich über die Dinge auslassen, die bisher Profit eingebracht hatten, und darüber, was wir ändern müßten.

»Ich danke Ihnen, daß ich an der regulären Redaktionssitzung teilnehmen kann. Es ist nett von Ihnen, daß ich Sie trotz Ihrer vielen Arbeit stören darf.« Mr. Sannos Stimme war überraschend hoch. Lag das daran, fragte ich mich, daß ihm das Englischsprechen Mühe machte? Er klang wie jemand, der tagtäglich mit englischen Muttersprachlern zu tun hatte, aber nicht so flüssig wie jene Japaner, die im Ausland gelebt oder studiert hatten.

»Kein Problem! Ich persönlich würd’ Sie gern öfter hier sehen«, sagte Alec in seiner lauten australischen Art, und ich spürte, wie sich die anderen verkrampften. Alec versuchte, seine Rolle als Übergangsleiter der Redaktion zu einer dauerhaften Einrichtung zu machen.

»Danke, Mr. Tampon«, sagte Mr. Sanno, Alecs Nachnamen bewußt falsch aussprechend. Ich gab mir keine Mühe, mein Lächeln zu verbergen. »Die Führung von Miss Whitney Talbot wird uns allen fehlen. Aber, wie wir in Japan und China oft sagen, das kanji-Zeichen für ›Krise‹ besteht aus den beiden Worten ›Gefahr‹ und ›Gelegenheit‹. Diese Herausforderung bietet uns die große Chance, uns weiterzuentwickeln, zu einer höheren Auflage für die Gaijin Times zu gelangen.«

Das Lächeln gefror mir auf den Lippen. Mr. Sanno begann schneller über Zahlen zu sprechen, als ich erwartet hatte.

»Sie wissen vielleicht, daß die Gaijin Times die einzige Zeitschrift ist, die Sanno Advertising besitzt. Vielleicht interessiert es Sie, warum wir diese Zeitschrift gegründet haben.« Er ließ den Blick über den Tisch schweifen. »Als Inhaber der Gaijin Times können wir unsere Anzeigen darin kostenlos schalten. Unseren Kunden müssen wir natürlich etwas für ihre Anzeigen berechnen, und sie sind damit einverstanden. Wenn ein solcher Kunde beispielsweise ein mexikanisches Restaurant ist, veröffentlichen wir eine Werbeanzeige dafür, und in derselben Ausgabe erscheint eine positive Besprechung von Joey Hirota.«

»Mr. Sanno, darf ich etwas dazu sagen? Die Zeitschrift ist mehr als nur ein Werbeblatt. Ich schreibe Artikel über die Bankenkrise, die yakuza, die Zukunft der Diät«, unterbrach Norton ihn.

Norton kannte ganz offensichtlich nicht die richtige Etikette für ein Gespräch mit einem japanischen Chef. Ich wechselte einen kurzen traurigen Blick mit Toshi und Rika. Joey Hirota betrachtete immer noch die Hände in seinem Schoß, als wäre es ihm schrecklich peinlich, als Verfasser getürkter Besprechungen entlarvt worden zu sein. Eigentlich hätte mir die Sache mit diesen Besprechungen schon längst klar sein müssen. Ich persönlich hatte noch nie viel von jemandem gehalten, der meinte, in Tokio könne man ein anständiges chimichanga kaufen.

»Aufgrund der wirtschaftlichen Veränderungen haben unsere Anzeigenkunden jedoch weniger Geld zur Verfügung. Um die Zeitschrift am Leben zu erhalten, brauchen wir mehr Abonnenten.«

Ich wußte aus eigener Erfahrung, daß es immer schwieriger wurde, als Ausländer in Japan beruflichen Erfolg zu haben. In den vergangenen Jahren waren die Einkünfte von Englischlehrern, Bardamen und anderen drastisch zurückgegangen. Junge gaijin setzten kein allzugroßes Vertrauen mehr in ihre Fähigkeit, sich in Tokio längere Zeit über Wasser zu halten, und so war die Aussicht, daß sie das Risiko eingingen, im voraus sechstausend Yen für die zwölf Ausgaben einer Zeitschrift hinzublättern, gering.

»Ich pflichte Ihnen bei, daß wir unsere Abonnentenliste erweitern müssen«, meldete sich Alec zu Wort. »Wir müssen mehr Platz für Musik und Clubs auf unseren Seiten schaffen, für all die Dinge, die die gaijin-Kids an die Sachen erinnern, die sie zu Hause zurückgelassen haben. Ein Cover mit den Beastie Boys oder Mariah Carey würde viel mehr Umsatz bringen als eins mit irgend ’nem Japaner. Finden Sie nicht auch?«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, erklärte Toshi Ueda aus der Fotoredaktion. Kein Japaner würde je einem anderen Menschen unumwunden erklären, daß er im Unrecht sei, und so hatte ich das Gefühl, daß Toshi etwas vorhatte. »Apropos Musikkultur: Es ist schon interessant, daß sich die Ausgabe mit dem Cover von Namie Amuro besser verkauft hat als jede andere zuvor oder danach.«

»Ja. Das beweist, daß japanische Stars den Ausländern durchaus gefallen. Die Fremden kommen in unser Land, weil sie unsere Popkultur bewundern!« sagte Mr. Sanno, dessen Stimme bis dahin so sanft gewesen war, ziemlich vehement – ein Hinweis darauf, daß Alecs laute, japanfeindliche Bemerkung ihn verärgert hatte.

Ich sah meine Chance gekommen, meiner eigenen Sache zu dienen. »Genau. Und Ausländer lieben außerdem auch japanische Antiquitäten. Selbst solche, die nicht viel Geld zur Verfügung haben, kaufen mit Begeisterung alte japanische Möbel.«

»Und was ist mit der japanischen Mode?« meldete sich Karen zu Wort. »Warum machen wir unsere Leser nicht auf örtliche Designer aufmerksam, die noch nicht in den großen Kaufhäusern zu finden und deshalb billiger sind?«

»Viele gute Ideen.« Mr. Sanno rieb sich das glatte Kinn. »Ich habe versucht, mir Anregungen auf dem japanischen Publikationsmarkt zu holen. Wissen Sie, welche Buchkategorie sich derzeit in Japan am besten verkauft?«

»Wirtschaft und Business«, sagte Norton mit einem Gähnen.

Mr. Sanno schüttelte den Kopf.

»Pornographie«, meinte Alec mit einem anzüglichen Grinsen.

»Nein, ich fürchte, es handelt sich um etwas viel Harmloseres.«

Rika hob die Hand. Als Mr. Sanno ihr zunickte, sagte sie schüchtern: »Manga?«

Er lächelte breit. »Genau. Vierzig Prozent aller in Japan verkauften Druckerzeugnisse sind Comics. Junge Dame, würden Sie mir Ihren Namen sagen? Ich glaube, Sie sind mir noch nicht vorgestellt worden.«

»Rika Fuchida. Ich bin die Praktikantin vom Showa College …«

»Eine gute Schule. Ich habe sie auch besucht.« Mr. Sanno zwinkerte ihr zu. »Gibt’s den manga-Club dort noch?«

»Ja, ich bin Mitglied.«

Mr. Sanno schlug den Aktenordner auf, in dem er zuvor geblättert hatte, und las daraus vor.

»Rika-chan könnte Ihnen vermutlich sagen, daß es mehrere englischsprachige Zeitschriften für Freunde japanischer Comics gibt. Aber es existiert noch kein manga in englischer Sprache, der Ausländern etwas über das Leben in Japan beibringt.«

Hatte er vor, die Gaijin Times in einen Comic zu verwandeln? Kein Wunder, daß Whitney das Weite gesucht hatte. Keine Reaktion auf den Gesichtern der Anwesenden. Vermutlich waren die anderen genauso schockiert wie ich.

»Und wann soll diese Veränderung vor sich gehen?« krächzte Toshi. Wahrscheinlich machte er sich Gedanken darüber, welche Rolle seine künstlerisch wertvollen Schwarzweißfotos in einem Comic-Heft spielen würden.

»Artikel und künstlerische Beiträge für die nächsten drei Nummern liegen bereits vor – ja, Miss Talbot war sehr fleißig –, und ich finde, wir sollten sie verwenden. Allerdings würde ich in der nächsten Ausgabe gern mindestens zwei Artikel sehen, die sich mit manga beschäftigen. Außerdem werden wir nach Zeichnern suchen, die ihre Arbeiten einreichen sollen, und pro Nummer zwei oder drei verschiedene Comic-Geschichten veröffentlichen. Wir haben jetzt Juli, also wäre eine vollständige manga-Ausgabe bereits im Dezember möglich. Wenn alle hart arbeiten, können wir es schaffen. Joey wird seine Restaurantbesprechungen in Zukunft in Comic-Form schreiben – das eröffnet doch völlig neue Möglichkeiten! So liest der Leser nicht nur über das Essen, sondern sieht es auch. Das gleiche gilt für Sie, Miss Karen. Fotos funktionieren heutzutage nicht mehr so gut.«

»Wie bitte?« fragte Karen verwirrt.

»Wenn ein Kleid einer Frau nicht schmeichelt, läßt die tatsächliche Abbildung es« – Mr. Sanno machte eine Geste in Richtung von Karens sackförmigem schwarzen Gewand – »schlecht aussehen. Fotos erzählen die wahre Geschichte, und die nützt dem Verkäufer nicht immer. Die Comic-Darstellung hingegen kann jedes Kleid hübsch erscheinen lassen.« Ich fühlte mich merkwürdig, als schwebte ich über dem Tisch und erlebte den Beginn einer Katastrophe mit. Karen hatte ohnehin Probleme, sich mit ihrer Gewichtszunahme abzufinden, und nun lenkte Mr. Sanno auch noch ganz brutal die Aufmerksamkeit aller darauf. Was würde mit uns anderen und der Zeitschrift passieren? Die Gaijin Times war noch nie ein prestigeträchtiges Blatt gewesen, aber wichtige Informationen über den japanischen Lebensstil hatte sie bisher immer zuverlässig vermittelt. Ich selbst hatte mit Hilfe der Gaijin Times gleich nach meinem Eintreffen im Land eine Wohnung und einen Job gefunden. Auch über die Haarentfernungsspezialistinnen vom Power Princess Spa hatte ich in einem Artikel von Karen aus der Ausgabe des Vormonats gelesen, fiel mir jetzt ein. Sollte man das alles wirklich für großäugige Androiden mit Wespentaille und Schießeisen auf den Schrott werfen?

»Dann werden Sie also vermutlich einen neuen Redakteur einstellen«, sagte Joey niedergeschlagen. »Einen, der sich mit Comics auskennt.«

»Wir Japaner geben immer lieber Leuten aus dem eigenen Betrieb den Vorzug«, antwortete Mr. Sanno. »Ich bin mir sicher, daß einer von Ihnen sich hervortun könnte. Heute werden wir erst einmal über ein paar Projekte für uns alle entscheiden, dann sind wir beschäftigt, bis ich hinsichtlich des Redakteurs zu einem Schluß komme.«

Es herrschte langes Schweigen; vermutlich machten sich alle Gedanken über mögliche Projekte.

»Ich habe von einem amerikanischen Wissenschaftler gehört, einem Experten in puncto Comics für salarymen. Ich könnte mich mit Hilfe von manga mit der sich wandelnden Arbeitsethik in Japan beschäftigen«, schlug Norton vor. »Und Toshi könnte Fotos von salarymen machen, die in der U-Bahn Comics lesen.«

»Die Fotos könnten als Vorlage für manga-Zeichnungen dienen«, sagte Mr. Sanno. »Wenn die salarymen häßlich sind, kann man sie in den Zeichnungen besser aussehen lassen. Meiner Ansicht nach waren in letzter Zeit zu viele Abbildungen häßlicher Menschen in dem Magazin.«

Mr. Sanno war selbst nicht gerade ein japanischer Hugh Grant, aber gut, wer konnte das schon von sich behaupten?

»Schön, der Gedanke mit den salarymen beschäftigt also erst einmal Norton und Toshi. Aber was ist mit Karen-chan?«

Mr. Sanno hängte an die Namen aller anwesenden Frauen die Nachsilbe -chan an, was so viel wie »klein« bedeutet. Karen empfand das als erniedrigend, das sah ich, denn sie wurde rot. Und sie antwortete hastig, ein weiteres Zeichen dafür, daß er sie aus der Fassung gebracht hatte.

»Ich war gerade dabei, eine Story über Cocktailkleider zu schreiben, die die besten Barhostessen der Stadt diesen Herbst tragen. Ich werde mich mit einer Modeillustratorin in Verbindung setzen, die die Kleider zeichnen kann. Die Hostessen sind wirklich sehr attraktiv«, fügte sie hinzu, um weiteren Kommentaren über mangelnde Schönheit zuvorzukommen.

»Wie wär’s, wenn man bekannte Comic-Figuren mit diesen Kleidern zeichnet?« fragte Rika, die Praktikantin.

»Das könnte illegal sein. Betty und Veronica sind wahrscheinlich geschützte Warenzeichen«, sagte ich rasch, damit Mr. Sanno Karen nicht mit einer undurchführbaren Aufgabe belastete.

»Nein, hier in Japan ist das anders«, erwiderte Rika. »Japanische manga-Verlage haben nichts dagegen, wenn Amateure ihre Figuren kopieren. Solche Comics von Amateuren heißen dojinshi, und wenn die sich gut verkaufen, so die Meinung der Verlage, ist das die beste Werbung fürs Original.«

»Rika-chan hat recht.« Mr. Sanno nickte Rika zu, die prompt den Kopf senkte und murmelte, wie unwürdig sie sei. Es war ein perfektes Beispiel japanischer Etikette, das ich genossen hätte, wäre da nicht Mr. Sannos bohrender Blick in meine Richtung gewesen. »Rei-chan, ich weiß, daß Sie nicht fest bei uns angestellt sind, aber Sie werden auch an der Umstrukturierung teilnehmen. In Ihrer Kolumne geht es um Antiquitäten und Kunst, daraus ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten.«

»Ich weiß sehr wenig über manga«, sagte ich steif. »Mein Wissensgebiet ist das japanische Kunsthandwerk.«

»Manga sind die wichtigste Kunstform unserer Zeit«, sagte Mr. Sanno. »Könnten Sie das nicht in Ihrer Kolumne schreiben?«

Ich war hin und her gerissen. Am liebsten hätte ich mich von Mr. Sannos dummer Idee mit den Comics distanziert, aber meinen Namen wollte ich doch ganz gern jeden Monat gedruckt sehen. Also sagte ich vorsichtig: »Ich möchte dazu beitragen, daß die Gaijin Times so gut wie möglich wird. Das bedeutet, ich wäre bereit, mich als Mitarbeiterin zurückzuziehen, wenn meine Artikel nicht mehr zum neuen Bild passen.«

»Hast du’s drauf abgesehen, gefeuert zu werden?« fragte Alec.

Allmählich ging er mir wirklich auf die Nerven.

»Ich weiß, was Sie tun könnten, Rei-san!« meldete sich Rika zu Wort. »Sie sind doch ein sehr ernsthafter Mensch; da könnten Sie einen seriösen Artikel über die Geschichte und die künstlerische Bedeutung von manga schreiben. Wenn es Ihnen gelingt, manga in einem guten Licht darzustellen, sind die Leser besser auf die neue Aufmachung vorbereitet.«

»Genau, Miss Fuchida! Helfen Sie doch bitte Miss Shimura bei ihrer Aufgabe.«

Rika, die mir mit ihrem Faltenrock, den Kniestrümpfen und Zöpfen gegenübersaß, wirkte eher wie ein Schulmädchen, nicht wie eine Studentin, die bald ihren Abschluß am Showa College machen würde. Aber in diesem Augenblick wurde mir wie vermutlich allen anderen Anwesenden klar, daß sie sich schon bald wie Clark Kent verwandeln würde, allerdings nicht in Superman, sondern in Rika Fuchida, die jüngste Gaijin Times-Chefredakteurin aller Zeiten.

3

 

»Neid ist eine Sünde«, murmelte ich am Samstagnachmittag in meinen Arm hinein.

»Was sagst du? Die Wellen sind so laut, ich kann dich kaum verstehen.« Takeo Kayama rieb meinen Rücken mit einem superorganischen Sunblocker ein. Auf und ab, hin und her – seine Finger, rauh von der Gartenarbeit, erzeugten ein angenehm scheuerndes Gefühl auf meiner Haut.

»Ich bin neidisch auf die Praktikantin von der Gaijin Times«, sagte ich lauter. »Bis gestern war sie das hochgelobte Mädchen für alles, und dann hat sich plötzlich herausgestellt, daß sie sowas wie einen Doktor in Comic-Geschichte hat. Sehr merkwürdig ist das alles. Sie hat erst vor ein paar Monaten angefangen, für das Magazin zu arbeiten. In ihrem Lebenslauf stand nichts von Kenntnissen über Comics. Die tauchen genau zum richtigen Zeitpunkt in Gegenwart der richtigen Person auf. Ich frage mich, ob sie von vornherein gewußt hat, was mit der Zeitschrift passieren würde.«

»Egal, jedenfalls solltest du dich für sie freuen«, sagte Takeo. »Schließlich hast du auch schon oft genug Glück gehabt. Und ich auch.«

»Das stimmt.« Takeo Kayama war einer dieser Glücksfälle in meinem Leben. In den wenigen Monaten, die ich ihn kannte, hatte er eine ganze Menge frischen Wind und Sonne in mein Dasein gebracht. Eigentlich hatte unsere Verbindung etwas Ironisches, denn ich strampelte mich ab, in die Ränge der Kapitalisten aufzusteigen, während Takeo sich in die Gegenrichtung bewegte, weil er auf die Leitung der Ikebana-Schule seiner Familie verzichtet hatte, um selbst Pflanzen auf organische Weise anzubauen.

»Kriegst du genauso viel wie immer für deinen Artikel?« fragte Takeo und schraubte den Deckel auf die Tube mit dem Sonnenschutzmittel. Wir waren am Isshiki Beach in Hayama, einer Küstenstadt ungefähr eine Stunde südlich von Tokio, wo Takeos Familie ein Sommerhaus besaß. Die Luft war voller Pingpongbälle, Frisbees und aufgeregter Rufe Hunderter von Schulkindern in ihren kurzen Sommerferien.

»Mr. Sanno war so begeistert von Rikas Idee, daß er mich gebeten hat, mehr zu schreiben als sonst. Hinterher hat er mir sogar versprochen, mir mehr dafür zu zahlen. Er möchte einen Artikel, der die Glaubwürdigkeit von manga stärkt.«

Ein vorbeiwackelndes Kleinkind kickte dunkelbraunen Sand in die Luft. Ich rückte den Sonnenschirm zurecht, den wir für fünftausend Yen gemietet hatten, und rief mir ins Gedächtnis, daß der Sand aus geologischen Gründen so schmutzig aussah. Isshiki Beach galt als einer der saubersten Strände in der Umgebung von Tokio, weil sich die Sommerresidenz des Kaisers dort befand. Allerdings entdeckte ich ein wenig Gutes verheißendes Bächlein, das sich von der einzigen Außentoilette einen Weg durch den Sand bahnte.

»Natürlich mußt du’s nicht machen, aber ich glaube, du hättest Spaß dran«, sagte Takeo und brachte so meine Gedanken wieder auf das eigentliche Thema zurück. »Du mußt bloß ein paar Tage lang Comics lesen, dich hinterher an den Computer setzen und deine Eindrücke darüber mit deinem Wissen über Holzschnitte vergleichen.«

»Da gibt’s zwei Probleme«, sagte ich. »Erstens weiß ich ganz genau, daß die Holzschnittmeister in puncto Kunst und gesellschaftlicher Relevanz viel besser sind. Aber Mr. Sanno möchte das nicht hören. Und zweitens kann ich, das weißt du genausogut wie ich, nicht richtig Japanisch lesen.« Manga für Schulkinder waren im phonetischen hiragana- und katakana-Alphabet geschrieben – beide beherrschte ich –, doch die für Erwachsene wurden fast ausschließlich in kanji verfaßt, jenem System piktographischer Wortsymbole, das seinen Ursprung in China hat. Ich hatte an der Imbißstube des Strandes die Zeitschrift Morning durchgeblättert und dabei feststellen müssen, daß ich fast nichts davon lesen konnte.

»Hmmm, vielleicht lernst du’s dann endlich.« Takeo massierte weiter meinen Rücken.

Ich sprach Japanisch so gut wie fließend, aber mit dem Lesen und Schreiben hatte ich große Probleme, und das war mir peinlich. Das einzige Gegenmittel bestand darin, jeden Tag ein paar Stunden lang ernsthaft kanji zu lernen, aber am Abend, wenn ich Tokio nach Antiquitäten und passenden neuen Besitzern für sie abgesucht hatte, wollte ich nur noch Romane in englischer Sprache lesen.

Takeo sah mich mit ruhigem Blick an. Seine Haut war von der Gartenarbeit kupferbraun. Diese Tätigkeit entsprach eigentlich nicht seiner Herkunft, aber er hatte sich dafür entschieden, um der dominierenden Art seines Vaters zu entkommen. Takeo war erst achtundzwanzig, doch die Arbeit in der Sonne hatte bereits ein paar Falten in die Haut um seine Augen gegraben und Muskeln aufgebaut, die jetzt, als er in seiner schwarzen Badehose neben mir kauerte, deutlich zu sehen waren.

»Du weißt doch, wie schwer mir das Lesen fällt«, sagte ich.

»Das sagst du immer.« Takeos Stimme war so warm wie der Tag. »Du bist genau wie ich. Ich sollte auch Englisch üben, mach’s aber nicht, weil du so gut Japanisch sprichst. Allerdings lebe ich nicht in Amerika, und du bist hier in Japan. Ich helfe dir beim Lesenlernen. Wir nehmen uns die manga gemeinsam vor.«

»Aber für dich sollten das Ferien sein«, sagte ich, einerseits dankbar, jedoch auch ein wenig enttäuscht. Ich hatte gehofft, daß dies ein ganz besonderes Wochenende für uns beide werden würde, in dessen Verlauf wir herausfinden könnten, wie sich unsere Beziehung in Zukunft gestalten würde. Deshalb hatte ich meinem Anrufbeantwortungsdienst mitgeteilt, daß ich bis zum Montag nicht zu erreichen wäre. Ebenfalls deshalb hatte ich eine Kühltasche mit den köstlichsten selbstgekochten Sachen gepackt. Und schließlich hatte ich deshalb … die Enthaarungsaktion über mich ergehen lassen.

Während ich so dalag und versuchte, Takeos Gefühle zu erraten, knallte ein Tischtennisball gegen seine Stirn. Ich holte tief Luft, als ein junger Mann mit einem fast schon obszönen String-Tanga zu uns herüberjoggte, um den Ball zu holen. Er entschuldigte sich mit einigen Verbeugungen und verschwand dann wieder, das muskulöse Hinterteil unter einer Ölschicht glänzend. Schon erstaunlich, wie wenig Scham junge Japaner im Hinblick auf ihren Unterleib hatten. Im Gegensatz dazu trugen die meisten Frauen am Strand einteilige Badeanzüge, weil sie ihren Bauch als nicht-öffentliche Zone betrachteten. Ich war die einzige in einem Speedo-Bikini, den ich nun schon seit zehn Jahren trug, weil er meinem eigenen Bauch eine gute Form verlieh und das Oberteil Träger hatte, die die Wellen nicht herunterziehen konnten.

»Möchtest du schwimmen?«

»Weißt du, ich kann’s nicht sehr gut«, sagte ich. Als Takeo mich erstaunt ansah, erklärte ich ihm: »Ich schwimme schon, aber du wirst sehen, daß ich mich ziemlich ungeschickt anstelle. Am besten kann ich’s auf der Seite. Bis zu den Bojen schaff’ ich’s nicht, falls du da raus willst.«

Takeo lächelte mich an. »Wir müssen nirgendwohin schwimmen. Viele Leute planschen bloß im Wasser.«

Als ich einen Blick hinaus warf, begriff ich, was er meinte. Viele der Leute im Wasser schienen an einem Fleck zu bleiben, Pingpong zu spielen oder sich einfach nur im Stehen zu unterhalten.

»Sind unsere Sachen denn sicher, wenn wir sie hier lassen?« fragte ich und deutete auf meine Strandtasche, in der sich ein paar Comics und ein bißchen Geld befanden.

»Natürlich. Schließlich sind wir hier in Japan!« sagte Takeo lachend und lief in Richtung Wasser, wo ich ihn einholte. Es war wunderbar warm, fast wie in der Badewanne. Er kraulte voraus, und ich schwamm ihm in der Seitenlage ungefähr fünfzig Meter nach, bis ich müde wurde.

»Ich muß jetzt eine Pause machen«, rief ich ihm zu und testete mit den Füßen die Tiefe des Wassers: knapp einsvierzig. Wie weit draußen, fragte ich mich, würde es wirklich tief werden?

Takeo schwamm mit ein paar schnellen Zügen zu mir zurück, tauchte unter, packte mich an der Taille und zog mich zu sich hinunter, um mir unter Wasser einen Kuß zu geben.

Ich tauchte prustend und lachend wieder auf. Über Wasser küßten wir uns weiter. Wir waren noch nicht so lange ein Paar, und so hatte alles noch etwas Verspieltes.

»Dein Bikini gefällt mir«, sagte er und schob die Hand unter den Bund des Unterteils.

»Das wagst du nicht«, sagte ich.

»Glaubst du wirklich?« Und schon hatte er mein Bikini-Unterteil in der Hand.

»Wow«, sagte ich und sah mich um. Es schien niemand herzuschauen. Ich hatte schon von der Leidenschaft der Japaner für Sex in der Öffentlichkeit gehört. Aber war das hier die Öffentlichkeit? Niemand konnte richtig sehen, was sich unter der Wasseroberfläche abspielte. Etwas Weiches huschte über die Innenseite meiner Oberschenkel – war das ein Fisch oder Takeo? Ich schlang meine Beine um seine Taille und spürte, wie meine Erregung wuchs.

»Entspann dich«, murmelte Takeo und beugte sich über mich. Ich tat, was er mir sagte.

 

Ich schämte mich nicht, laut aufzustöhnen, weil ich wußte, daß die Brandung meine Stimme übertönte. Doch als wir beide wieder bei Atem waren, sahen wir uns einem Problem gegenüber: Während unserer heftigen Bewegungen hatte sich mein Bikini-Unterteil von Takeos Arm gelöst und war fortgespült worden. Jetzt hatte ich also kein Unterteil mehr und nur zwei Alternativen: Entweder ich stürzte mich selbstmörderisch in die Tokyo Bay oder ich machte mich auf den Weg zurück an den Strand zu den Hunderten picknickender Familien. Die Ironie der Situation wurde mir bewußt: Aufgrund der Haarentfernung würde ich den Fluten immerhin so makellos gepflegt entsteigen wie ein Playgirl in einem Männermagazin.

»Ist alles gar nicht so schwierig«, sagte Takeo unter schallendem Gelächter. »Du bleibst im Wasser, und ich gehe raus und kaufe in dem Laden am Strand einen Bikini. Den bringe ich dir dann, damit du ihn unter Wasser anziehen kannst.«

»Nein!« lachte ich genauso fröhlich. »Woher willst du einen Bikini wie meinen alten amerikanischen kriegen? Nein, ich glaube, es ist besser, du gibst mir deine Badehose. Die paßt wenigstens zu meinem Oberteil, und außerdem ist der Herrenschnitt modern. Ich gehe raus und kaufe dir eine neue. Möchtest du wirklich wieder eine wie die? Soweit ich weiß, verkauft ein Laden am Strand Tangas.«

»Ist das dein Ernst?« fragte er mit vor Entsetzen geweiteten Augen.

»Warum, gibt’s ein Problem mit der Größe?« fragte ich mit einem spitzbübischen Lächeln.

»Rei, du bist wirklich unmöglich! Wenn du mich ohne Badehose allein läßt, bin ich doch splitternackt. Es ist sicherer, wenn du im Wasser bleibst. Du hast wenigstens noch dein Oberteil. Was, wenn jemand mich sieht und mich anzeigt?«

»Das ist überhaupt nicht logisch!« Allmählich verging mir die Heiterkeit.

»Schau mal! Womit spielen denn die Jungs da drüben?«

Ich sah hinüber, und tatsächlich, etwa sechs Meter entfernt waren ein paar Schuljungen auf kleinen Schwimmbrettern. Einer von ihnen hatte sich mein Bikini-Unterteil wie eine Maske aufgesetzt und benutzte die Beinöffnungen als Löcher für die Augen.

»Mein Gott, wie bizarr«, sagte ich.

Takeo schwamm sofort zu den Jungen hinüber und unterhielt sich mit ihnen. Ich hörte kein Wort von dem, was er ihnen erklärte, sah aber, wie der Junge Takeo widerwillig das Bikini-Unterteil aushändigte.

»Danke. Jetzt wissen sie immerhin, daß das Ding mir gehört, was?« brummte ich, als er es mir brachte.

»Weißt du was? Als es gegen ihr Schwimmbrett gespült wurde, haben sie’s gar nicht für ein Bikini-Unterteil gehalten, sondern für ’ne Batman-Maske.«

»Die lesen zu viele Comics«, sagte ich.

»Stimmt. Aber ich habe sie in ihrem Glauben gelassen.«

»Wahrscheinlich ist das eine Botschaft für mich«, sagte ich.

»Wie bitte?«

»Ich sollte meine Arroganz gegenüber Comics ablegen. Schließlich haben sie meinen guten Ruf gerettet.«

4

 

Zwei Stunden später lagen wir zusammen auf Takeos Futon, Comic-Hefte um uns herum. Während Takeo laut vorlas, mühte ich mich ab, seine Worte ins Englische zu übersetzen und aufzuschreiben. Ich ließ mich leicht ablenken; mein Blick wanderte immer wieder über seinen goldbraunen Rücken hinunter zu seiner weiten Hose mit dem Kordelverschluß.

Takeo jedoch, ganz harter Samurai, bestand darauf, zuerst die Übersetzung zu Ende zu bringen, und las mit leiser Stimme weiter.

»In einem Krankenhaus im Zentrum von Tokio wurde vor gar nicht langer Zeit am Neujahrstag ein kleines Mädchen geboren. Das Baby hatte fröhliche grüne Augen und ungewöhnliche schwarze Korkenzieherlocken, und so nannte ihre Familie sie Mezurashiko, ›das besondere Kind‹.«

»Weil Mezurashiko so ganz anders war als die anderen japanischen Kinder, glaubten die Nachbarn, sie sei das Produkt einer Affäre zwischen ihrer Mutter und einem Fremdarbeiter. So mußte sich Mezurashiko während ihrer gesamten Schulzeit Hänseleien und Schikanen gefallen lassen. Niemand ahnte, daß Mezurashikos Vater tatsächlich ein Fremder war – ein gutaussehender Mann vom Mars, der in einer von Tokios heißesten Nächten aus seinem Raumschiff durch das Wohnungsfenster von Mezurashikos Mutter geschlüpft war, um sich des Körpers der nichtsahnenden Frau zu bemächtigen. Die kleine Mezurashiko hatte seine Gene geerbt und besaß unglaubliche Fähigkeiten. Als sie erwachsen war, beschloß sie, manche dieser Fähigkeiten auch zu nutzen.«

Ich notierte die Übersetzung, doch meine Gedanken waren anderswo. Wäre ich im Besitz solcher Fähigkeiten gewesen, hätte ich den Raum um uns herum verändert. Das Haus der Kayamas war eine klassische Villa am Meer, erbaut in den zwanziger Jahren; selten, weil man es nicht abgerissen hatte, aber auch traurig wegen des Zustandes, in dem es sich befand. Viele Schindeln fehlten auf dem hübsch geschwungenen Dach, im Innern waren die Wände voller Wasserflecken, und die tatami-Matten beherbergten ganze Heerscharen von Insekten. Takeo hatte fast den gesamten Sommer hier verbracht. Ich wußte nicht, wie er das aushielt. Natürlich war allmählich zu sehen, was er geleistet hatte – ein Bad mit neuen sanitären Anlagen und einzelne Wände, die für einen neuen Anstrich vorbereitet waren. Ich mußte zugeben, daß er hart arbeitete. Immerhin war sein Futon neu, und er hatte hübsche Baumwollbettwäsche. Aber er brauchte dringend Hilfe bei der Dekoration, wenn man sah, daß die Wände mit Postern gefährdeter Tierarten und Kampfsportlern – offenbar Relikte aus seiner Kindheit – bepflastert und der Boden mit Zeitschriftenstapeln bedeckt war.

Ich konzentrierte mich wieder auf die zweihundertseitige Ausgabe von Mars Girl vor mir. Das war etwas ganz anderes als die präzisen, bunten Comics, die ich in den Staaten gelesen hatte. In Mars Girl wurde großer Wert auf den Gesichtsausdruck der Figuren gelegt und der Hintergrund der Szenen vernachlässigt. So gesehen unterschieden sich die zeitgenössischen japanischen Comics sehr von den sorgfältig ausgearbeiteten Holzschnitten des neunzehnten Jahrhunderts. Natürlich hatte ein Künstler in einem sechs mal zehn Zentimeter großen Schwarzweißrahmen nicht allzuviele Gestaltungsmöglichkeiten. Manga unterlagen also grundsätzlich künstlerischen Beschränkungen.

»Ich glaube nicht, daß Mars Girl eine Besprechung wert ist«, sagte ich.

»Das hast du über Ogre Slayer, Oh! My Goddess und Tokyo Babylon auch schon gesagt«, meinte Takeo, legte den Kopf in den Nacken und leerte den letzten Rest aus einer Dose Asahi Super Dry Beer.

»Deine Übersetzungen haben mir gezeigt, daß die Storys bei diesen Comics viel stärker sind als die künstlerische Seite«, sagte ich. »Aber ich will nicht über die unwahrscheinlichen Abenteuer von Außerirdischen schreiben, die sich mit Japanern einlassen. Das Thema ist ziemlich abgedroschen; die Hälfte der Comics, die wir bis jetzt durchgegangen sind, beschäftigt sich damit. Noch ein Schulmädchen, das vergewaltigt wird, und ich muß kotzen.«

»Ich hab’ dir sowieso fast bloß shoujo manga gekauft, Mädchen-Comics, weil mir schon klar war, daß du die mit Gewalt nicht mögen würdest.«

»Dann findest du also, daß die Vergewaltigung einer nichtsahnend schlafenden Frau nichts mit Gewalt zu tun hat?« Ich legte das Notizheft weg, in das ich Takeos Übersetzungen geschrieben hatte.

Takeo zuckte mit den Achseln. »Manga für Frauen beschäftigen sich manchmal mit ziemlich düsteren Themen. Aber wenn die Leserinnen sie nicht wollten, würden sich die Geschichten auch verändern.«

»Ich muß mich schon fragen, was Frauen wollen.« Ich erhob mich, streckte mich und schaute durch die Panoramafenster hinaus auf den Garten und das dahinter liegende Meer. Weil das Haus hoch oben auf einer Klippe stand, konnte ich bis hinunter zum Strand sehen, wo ein Mann gerade für seinen Hund einen Ball ins Wasser warf.

Da spürte ich eine Berührung im Nacken und merkte, daß das Takeos Lippen waren. Ich blieb stehen, beobachtete weiter den Mann und den Hund beim Spielen und genoß den Kuß.

»Ist es das, was du möchtest?« fragte Takeo sanft.